Das beschauliche Estes Park, in dem wir zwei Tage verbracht haben, lebt vom Tourismus im Rocky Mountain National Park. Es gibt zahllose Hotels und Motels, darunter auch das legendäre Stanley Hotel, das Stephen King zu Shining inspiriert hat, und sehr viele Restaurants. Darüber hinaus gibt es hier auch jede Menge Wildtiere. Als wir ankamen, stand ein Hirsch mit mächtigem Geweih auf der Straße und trottete dann die Auffahrt zu einem Golfclub hinauf, wo sich bereits einige Rehe niedergelassen hatten. Selbst im Hof unseres Hotels tummelten sich zwei Hirsche, unbeeindruckt von der musikalischen Darbietung von Cowboy Rodger, der hier jeden Abend am Lagerfeuer spielt. Man kann sagen, man wohnt hier sehr naturverbunden. An unserem ersten Morgen hüpfte sogar ein Präriehund vor dem Badezimmerfenster herum.
Der Rocky Mountain National Park ist für seine wunderbaren Bergpanoramen, seine kristallklaren Seen und seine Tierwelt berühmt. Über vier Millionen Menschen kommen jedes Jahr hierher, um zu campen, zu wandern oder Tiere zu beobachten, damit ist der Park nach dem Grand Canyon der zweitbeliebteste in den USA. Leider merkt man das auch. Als wir nach unserer Ankunft die Planung für den nächsten Tag durchgegangen sind, sind wir durch Zufall auf den Hinweis gestoßen, dass man neben einem gültigen Tages-, Wochen- oder Jahres-Ticket auch noch eine spezielle Erlaubnis zum Befahren des Parks benötigt. Was wir nicht wussten. Also schnell online nachgesehen und festgestellt, dass nur noch wenige verfügbar waren.
Leider kamen wir nicht zum Zug, weshalb wir auf das Shuttle umschwenken mussten, für das man ebenfalls Tickets vorab buchen muss. Was mit einer schwächelnden Internetverbindung im Hotel schwierig war und uns eine Menge Zeit und Nerven gekostet hat. Am nächsten Morgen fuhren wir dann in einem Kleinbus zum Parkeingang – um hier erst einmal eine Weile im Stau zu stehen, weil dem Park Personal fehlt und nicht alle Kassenhäuschen besetzt werden konnten. Man könnte meinen, wir lebten im Marvel Cinematic Universe und Thanos hätte mal eben die Hälfte aller Service-Mitarbeiter verschwinden lassen.
Im Park selbst mussten wir dann an einer Art Busbahnhof noch in eine andere Linie umsteigen, die uns zum gewünschten Stopp am Bear Lake brachte. Was mit dem Auto dreißig Minuten gedauert hätte, hat nun mehr als eine Stunde in Anspruch genommen. Letzten Endes war es aber die richtige Entscheidung, denn selbst mit einer Fahrerlaubnis im Park gibt es keine Garantie auf einen freien Parkplatz.
Keine Ahnung, was neuerdings in die Amerikaner gefahren ist, haben wir früher nur selten Menschen beim Wandern getroffen, sind heutzutage wahre Heerscharen unterwegs. Man war nie mehr als ein, zwei Minuten lang allein auf weiter Flur, und oft kam es auf schmalen Wegen zu einem Stau. Nicht unbedingt das, was man sich unter einer gemütlichen Wanderung vorstellt, zumal auch an den Aussichtspunkten starkes Gedränge herrschte.
Vielleicht war das Problem aber auch, dass wir mehrere ungemein populäre Sehenswürdigkeiten angesteuert haben. Durch einen dichten Wald ging es zunächst mehrere Kilometer bis zum Nymph Lake, der nach den in ihm beheimateten Wasserlilien (Nymphae polysepala) benannt ist. Von dort aus stieg der Weg immer steiler an, so dass der Stopp am Dream Lake ungemein gelegen kam. Aber auch dort war noch immer nicht das Ende des Trails in Sicht.
Über zahllose, zum Teil recht steile Stufen und schmale Wege ging es weiter in die Berge hinauf zum Emerald Lake, der sich auf über dreitausend Metern Höhe befindet – da kann man aufgrund der dünnen Luft durchaus in Atemnot geraten. In der Lobby unseres Hotels werden sogar tragbare Sauerstoffflaschen verkauft, aber so schlimm war es dann doch nicht.
Auf dem Rückweg haben wir noch einen Abstecher zum Bear Lake unternommen, der eines der beliebtesten Fotomotive in diesem Bereich des Parks ist. Da er bequem erreichbar ist, einen asphaltierten und damit Rollstuhl-gerechten Zugang besitzt und überdies pittoresk ist, kann man seine Popularität verstehen.
Vom Bear Lake aus sind wir noch zu den Alberta Falls gewandert, was nicht ganz so anstrengend war wie unser vorheriger Marsch. Verglichen mit einigen anderen Wasserfällen, die wir in den letzten Wochen gesehen haben, sind die Alberta Falls zwar hübsch, aber nicht übermäßig beeindruckend. Dafür stießen wir unterwegs ständig auf niedliche Streifenhörnchen. Kurz hatten wir im Anschluss noch mit dem Gedanken gespielt, ein paar Kilometer anzuhängen, um zu einem weiteren See zu wandern, aber wir waren müde, und es bestand die Gefahr, dass wir nicht rechtzeitig zum letzten Shuttle zurück sein würden, das bereits um 17:15 Uhr fährt.
Um kurz nach vier kamen wir wieder in Estes Park an und gingen mexikanisch essen. Hier in den Bergen scheint niemand gerne lange aufbleiben zu wollen, denn fast alle Restaurants schließen spätestens um 21 Uhr, manche sogar bereits zwei Stunden eher. Muss wohl an der dünnen Bergluft liegen.
Am nächsten Morgen ging es hoch hinaus. Um elf Uhr, früher konnten wir keine Erlaubnis zum Befahren des Parks ergattern, fuhren wir auf die Trail Ridge Road, auch bekannt als Highway to the Sky. Es ist die höchste, asphaltierte Straße in den USA, die Estes Park und Grand Lake miteinander verbindet und dabei auf über dreieinhalbtausend Meter ansteigt (3713 Meter am höchsten Punkt), bis man meint, fast die Wolken berühren zu können.
Die Straße, die sich zum Teil in engen Serpentinen durch das Gebirge schlängelt, führt zunächst durch dichte Wälder, die zum Glück immer wieder einige Lücken aufweisen, durch die man grandiose Ausblicke auf das gerade durchquerte Tal hat. An der Strecke liegen mehrere Aussichtspunkte, die man ansteuern sollte, will man die wild-romantische Hochgebirgslandschaft in vollen Zügen genießen. Besonders der Blick vom Forest Canyon Overlook ist phänomenal.
Am Rock Cut, so benannt, weil die Straße hier tief in den Felsen geschnitten wurde, gibt es sogar eine kürzere Wanderung einen Hang hinauf. Hier ist man bereits oberhalb der Baumgrenze in einer kargen Tundralandschaft, die ebenfalls ihre Reize hat. Als wir uns der Stelle näherten, stand plötzlich ein Murmeltier von der Größe einer Hauskatze auf der Straße und flüchtete dann den Abhang neben der Straße hinunter. Leider zu schnell für meine Kamera, und auch die zwei, drei anderen Exemplare, die wir noch gesehen haben, waren zu weit weg. Putzig waren aber auch die winzigen Pikas, die wie eine Mischung aus Hase und Maus aussehen und deren Pfiffe weithin zu hören waren. Deshalb heißen sie auf Deutsch auch Pfeifhasen.
Hoch oben gibt es sogar ein Visitor Center mit ausgedehntem Souvenirshop, in dem wir uns umgesehen haben. Wir sind eher keine Andenkensammler (mit der Ausnahme von Kühlschrankmagneten), aber die Auswahl war ziemlich beeindruckend. Manche Preise allerdings auch. Es gibt dort die Möglichkeit, noch weiter den Berg hinaufzusteigen, aber die zahllosen Stufen haben uns eingeschüchtert. Die Luft ist schon sehr dünn, und jede Anstrengung kostet eine Menge Kraft. Und viel besser konnte die Aussicht eigentlich nicht mehr werden.
Von da an ging es nur noch bergab. Die Aussicht auf die umliegenden Berge und Täler war immer noch schön, aber die Highlights lagen nun hinter uns, so dass wir ohne weitere Unterbrechungen zu unserem Tagesziel fahren konnten. Insgesamt haben wir für die Fahrt über die Rocky-Mountains-Hochstraße rund viereinhalb Stunden gebraucht – und jede Minute davon genossen.
Übernachtet haben wir in einer winzigen Ortschaft namens Silver Plume, einer ehemaligen Bergbaustadt, in der heute weniger als zweihundert Einwohner leben, während es in ihrer Blütezeit bis zu zweitausend waren. Böse Zungen (die vermutlich in der benachbarten Rivalin Georgetown beheimatet sind) nennen sie gar eine „lebendige Geisterstadt“. Die wenigen Holzhäuser, die teilweise sehr alt aussehen, schmiegen sich in das gleichnamige, enge Tal links und rechts eines Highways.
Wir residierten im einzigen Hotel der Stadt, das 1884 gegründet wurde und so illustre Gäste wie Thomas Edison und Nicola Tesla beherbergte. Wie alle alten Häuser ist es krumm und schief, die Böden haben ein eindeutiges Gefälle, auf der Treppe fühlt man sich wie ein Seemann, und bei jedem Schritt quietscht und knarrt es. Die Zimmer sind winzig, aber charmant, und wer weiß, wer dort einst genächtigt hat?