In der Nacht gingen über Alamosa heftige Regenfälle nieder, und selbst am nächsten Morgen war der Himmel noch immer wolkenverhangen, und es nieselte von Zeit zu Zeit. Nicht das Wetter, das man Ende August erwartet, denke ich. Wir brachen erst spät auf, weil es sowieso ein Fahrtag mit nur wenigen Wanderungen werden sollte, und durchquerten zunächst das San Luis Valley, das so flach ist wie eine Landschaft nur sein kann. Die namengebenden Berge im Osten waren im Nebel nur schwach zu erkennen, und schwere Regenwolken lagen auf ihren Gipfeln wie eine nasse Wolldecke. Der Highway 17 ist so gerade, als hätte man ihn mit dem Lineal gezogen, und neben vereinzelten kleinen Orten, die allesamt schon bessere Zeiten gesehen haben, gab es nur die üblichen Weiden und Ranches.
Abgesehen von einer toten Kuh (vielleicht war es auch ein Reh) gab es nichts Interessantes zu entdecken, nicht einmal eine Kurve. Das Aufregendste war ein LKW, dessen Ladefläche mit einem riesigen Haufen Kartoffeln bedeckt war, von denen ein so durchdringender Geruch ausging, dass er selbst noch in unserem Wagen zu riechen war. Leider war die Straße in keinem besonders guten Zustand (wie die meisten in Colorado), so dass es bei einem Schlagloch schon mal passieren konnte, dass unser Auto von einer Kartoffel beschossen wurde.
Kurz nach Hooper fielen uns dann einige seltsame Tafeln auf, die die Straße zum „Cosmic Highway“ erklärten, ein paar Alienfiguren aus Plastik standen am Straßenrand, und dann waren wir auch schon vorbei an der Ausfahrt zum „Alien Watchtower“. Nicht nur Roswell, sondern auch andere Regionen in den USA nehmen Aliensichtungen und unerklärliche Phänomene für sich in Anspruch, um damit Touristen zu bespaßen und Gläubige anzulocken. Leider waren wir nicht darauf vorbereitet, sonst hätten wir vielleicht angehalten.
Nach kurzer Internetrecherche weiß ich nun, dass das San Luis Valley „das Bermuda-Dreieck des Westens“ ist und die Betreiberin den Wachtturm, der lediglich ein erhöhtes Podest ist, zunächst aus Spaß errichtet hat. Nachdem sie als Rancherin gescheitert war, wollte sie damit ein Nebengeschäft eröffnen und Touristen bewirten. Doch in dem Tal soll es schon immer mysteriöse Sichtungen gegeben, angeblich schon zur Zeit der Spanier, und inzwischen ist sie selbst eine Gläubige, die behauptet, unter ihrem Souvenirshop läge ein riesiges Raumschiff begraben, das vor langer Zeit hier abgestürzt ist.
Im Nachhinein denke ich, es wäre vielleicht ein Spaß gewesen, sich dort umzusehen, ein paar Fotos von den Alien-Figuren zu schießen, Geschichten über UFOs zu hören und vom Watchtower aus selbst Ausschau nach kleinen grünen Männchen zu halten. Vielleicht hätten wir eines gesehen. Oder zumindest eine tieffliegende Kartoffel.
Nach über einer Stunde hatten wir das langweilige Tal endlich hinter uns gelassen und erreichten hübschere Gefilde. Wir stießen dabei auf einen alten Bekannten, den Arkansas River, der sich hier durch wunderschöne Täler schlängelt und sich dabei nur gelegentlich so unbändig gibt wie auf unserer Raftingtour vor vier Tagen. Links und rechts der Straße ragen rot-braune Felsen voller Rillen und Kerben auf, und insgeheim dachte jeder von uns: Hoffentlich fällt uns kein Stein aufs Auto. Unwahrscheinlich war das, wenn man den Warntafeln glauben mag, nicht.
Die Royal Gorge ist eine tiefe Schlucht, über die sich seit 1929 eine mächtige Brücke spannt, die man mit dem Wagen überqueren kann. Inzwischen ist diese „american bridge“ zu einem Touristenhotspot geworden. Es gibt eine Art Freizeitpark, in dem man mit einer Gondel über den Abgrund schweben kann, mit einer Zahnradbahn zum Grund der Schlucht gelangt, ein paar Fahrgeschäfte für Kinder, eine Filmvorführung über den Bau der Brücke und einen Wildtierpark. Das alles für 30 Dollar pro Person. Und wer sich in einer Mischung aus Riesenschleuder und Schaukel über den Abgrund katapultieren lassen oder ihn an einer Zipline befestigt überqueren möchte, zahlt noch einmal 48 bzw. 35 Dollar für den Spaß. Mir könnte man 100 Dollar bieten, und ich würde mich nicht darauf einlassen, und da es wieder genieselt hat, haben wir darauf verzichtet.
Einen Blick auf die Schlucht und die Brücke wollten wir trotzdem werfen und sind daher über eine abenteuerliche Straße, die vor allem aus Schlaglöchern zu bestehen schien, zu einem Picknickplatz gefahren. Im Regen war der Ausblick jedoch nicht gerade überwältigend.
Daher beschlossen wir auch, auf unseren Abstecher nach Cripple Creek, einer ehemaligen Bergbaustadt, die nun vom Glücksspiel lebt, zu verzichten und gleich nach Colorado Springs weiterzufahren. Kaum angekommen, brach ein Gewitter los, und es schüttete erneut wie aus Kübeln. Zum Trost gingen wir zu einem indischen Restaurant in der Nähe, das gut war, wenn auch nicht so lecker wie unser Inder daheim. Das kleine Restaurant hatte einen leichten Hippie-Charakter, und die Kellnerin hat tatsächlich kurz vor Freude gejuchzt, als ich etwas Vegetarisches bestellt habe (ach, wenn sie nur wüsste …). Toll war vor allem das Süßkartoffel-Curry, der Spinat mit Kokosmilch hingegen war relativ fad und kannte eine Kokosnuss höchstens aus dem Fernsehen, und der Paneer war so fest, dass ich direkt neidisch geworden bin, weil meiner immer auseinanderfällt (und ja, ich mache meinen Käse selbst). Es war aber definitiv eine Abwechslung zu all den Burgern mit Pommes, die ich meistens als Beilage wähle, weil ich dem Salat nicht traue (oder vielmehr dem Küchenpersonal, selbigen gründlich genug zu waschen – ich hatte mehr als einmal einen schmerzhaften Ausschlag im Mund, weil ich auf bestimmte Pestizide empfindlich reagiere, und wer traut sich in einem republikanischen Staat schon, nach Bio-Gemüse zu fragen?).
Für den nächsten Tag hatten wir einiges geplant, und so brachen wir schon recht früh zum Garden of the Gods auf. Um kurz nach sieben Uhr, dachten wir zumindest, sollten wir den Ort mehr oder weniger ganz für uns haben, noch dazu an einem Samstag. Doch weit gefehlt! Der Parkplatz, an dem die meisten Wanderwege beginnen, war bereits größtenteils belegt, und auf den Pfaden tummelten sich zahlreiche Jogger, Leute, die ihre Hunde ausführten, und Wanderer. Auch überraschend viele junge Leute waren unterwegs, und keiner von ihnen sah aus, als hätte er oder sie die Nacht durchgemacht. O tempora, o mores!
Der Park ist nicht riesig und besteht im Kern aus einer Reihe von tiefroten Felsformationen, die man auf asphaltierten Wegen umwandern kann. Kein Wunder, dass sich hier halb Colorado Springs trifft. Darüber hinaus ist die Landschaft von geradezu überirdischer Schönheit: Der rote Stein hebt sich vom satten Grün der Büsche und Bäume ab und harmoniert wunderbar mit dem tiefblauen Sommerhimmel. Die Luft duftet nach Kiefernadeln, Rehe springen über die Wege (wahrscheinlich aufgeschreckt von all den Hunden), und es wäre der friedlichste Ort auf Erden, wenn nicht die vielen Menschen wären.
Natürlich genießt nicht jeder die Natur so still und bescheiden wie wir, aber es ist immer wieder erstaunlich, wie laut Amerikaner sein können. Manche hört man schon aus zwanzig Metern Entfernung und kennt alsbald alle Details über ihre jüngste gescheitere Beziehung oder ihre bevorstehende Knieoperation. Und es ist erschreckend, wir rücksichtslos manche von ihnen sind, vor allem, und es ist traurig, das zu sagen, die Jüngeren. Ich kann gar nicht aufzählen, wie oft mir einfach jemand ins Bild gelaufen ist, sich vor die Kamera gestellt und seine eigenen Fotos gemacht hat. Oder auf die Felsen geklettert ist und dadurch ein halbes Dutzend Leute davon abgehalten hat, Bilder von der unberührten Natur zu schießen. Selbst die friedliebendste Person könnte hier zum Menschen- und Instagramhasser werden.
Trotz allem ist es uns aber gelungen, einige schöne Fotos zu machen, und der Rest ist vermutlich bald vergessen. Einige Wanderungen haben wir auch unternommen, vor allem im hinteren, weniger zugänglichen Teil, in dem auch etwas weniger Menschen unterwegs waren. Alles in allem kann man hier gut drei bis vier Stunden verbringen, ohne dabei weit aus der Stadt herausfahren zu müssen.
Von Colorado Springs selbst haben wir nicht allzu viel gesehen. Wir waren nur in der Altstadt von Colorado City, das früher eine eigenständige Stadt war und einen gemütlichen, lässigen Eindruck gemacht hat. Mich hat es mit seinen hübschen, alten Häusern und alternativ angehauchten Restaurants ein bisschen an Portland oder Seattle erinnert. Da wir direkt an der Stadtgrenze zu Manitou Springs wohnten, wollten wir uns diesen historischen Kurort ansehen, sind aber an der unübersichtlichen Beschilderung gescheitert, einmal im Kreis gefahren und haben dann dankend verzichtet. Baden-Baden ist sowieso schöner.
Am Nachmittag wollten wir eigentlich auf den Pikes Peak, dem 4301 Meter hohen Hausberg der Stadt. Man kann mit dem Auto eine enge Serpentinenstraße hinauffahren oder die historische Zahnradbahn nehmen, was mit 60 Dollar pro Person allerdings ein teures Vergnügen ist. Selbst die Straßenbenutzung kostet noch die Hälfte. Man kann auch hinaufwandern, was allerdings in etwa einem Halbmarathon entspricht. Einige wenige Leute schieben sogar eine Erdnuss den Pikes Peak hinauf – mit ihrer Nase. Zuletzt geschah das zu Ehren des 150. Geburtstags von Manitou Springs, aber uns stand nicht der Sinn danach, diesem exklusiven Club beizutreten, und ich finde, 30 Dollar zu zahlen, um auf einen Berg zu fahren, ein kleines bisschen überteuert.
Außerdem stand uns der Sinn nach Ruhe und Erholung. Die vielen Wochen unterwegs, nicht zu vergessen die langen Wanderungen, fordern allmählich ihren Tribut, und schließlich fahren wir nahezu jeden Tag auf einen Berggipfel, um dann einen zugegebenermaßen herrlichen Blick auf die weiten Täler zu haben. Und wahrscheinlich hätte ich mich nur wieder über die lauten und unverschämten Menschenmassen geärgert. Stattdessen sind wir ins Kino gegangen und haben uns Black Phone angesehen.