Wieder stand ein Fahrtag an. Von Scottsbluff aus ging es zunächst zurück nach Wyoming, genauer gesagt in die Hauptstadt Cheyenne tief im Süden des Staates. Die Stadt entstand im Zuge des Baus der Union Pacific Railroad rund um den Bahnhof. Dieser zog eine Menge Siedler an, und schon bald hatte die Ortschaft 60 Bordelle und Saloons. Die Menschen kannten eben ihre Prioritäten. Innerhalb von ein bis zwei Jahren wuchs die Einwohnerzahl auf stattliche 4000 an, und Cheyenne wurde Hauptstadt des Territoriums. Wahrscheinlich mit noch mehr Bordellen und Saloons, schließlich siedelten sich nun eine Menge Politiker an.
Wir haben einen Abstecher zum Kapitol gemacht und sind danach ein wenig durch Downtown geschlendert. Die Stadt besticht durch eine spannende Mischung aus alten und neuen Häusern und hat eine nicht erklärbare Schwäche für überdimensionierte Cowboystiefel und Wandgemälde, was dem Ort gleichzeitig etwas Rustikales und Urbanes verleiht.
Kurz darauf überquerten wir die Grenze zu Colorado, und der Unterschied zu Nebraska und Wyoming könnte nicht größer sein. Meile um Meile ging es zunächst durch eine sanft hügelige Landschaft mit gelbgrünem Präriegras, die zwar schön anzuschauen, aber mit der Zeit auch etwas eintönig war. Das ging sogar so weit, dass man sich direkt über eine Kurve in der sonst schnurrgeraden Straße gefreut hat oder über ein paar grasende Kühe.
So richtig wohl gefühlt habe ich mich in diesen republikanisch geprägten Staaten nicht. Die Menschen hier sind zwar oberflächlich betrachtet recht nett, aber wenn man sich ein wenig mit der Geschichte und aktuellen politischen Situation beschäftigt, überkommt einem des Öfteren ein mulmiges Gefühl. Wenn man etwa in einem winzigen Ort an der Tankstelle argwöhnisch betrachtet wird, weil man fremd ist (und wie oft habe ich dann gedacht: Wenigstens sind wir weiß.), oder wenn man eine Halterung am Gürtel entdeckt und zuerst an eine Schusswaffe denkt (auch wenn es dann nur ein Handy oder ein Messer war).
Jedenfalls war ich froh, als wir die Grenze zu Colorado überschritten hatten. Schlagartig schien es, als wären wir in einer anderen Welt. Die Straßen waren in einem viel besseren Zustand (aber immer noch schlechter als zuhause), und die gesamte Gegend wirkte sehr viel belebter und urbaner. Von der Grenze bis nach Denver reihten sich etliche kleinere und größere Städte am Highway entlang, der so dicht befahren war, wie wir es sonst aus dem Großraum Los Angeles kennen. Wir passierten auch nur noch wenige Farmen, dafür umso mehr Gewerbegebiete, Vorortsiedlungen und Einkaufszentren. Was für ein Unterschied zu den rein landwirtschaftlich geprägten Gebieten der letzten Tage, zu den heruntergekommenen Orten, die wie Geisterstädte anmuten. Und einen viel besseren Handyempfang hatten wir auch, sogar das mobile Internet, das immer wieder in die Knie gegangen war, funktionierte wieder einwandfrei.
Aber mit der Zivilisation kamen auch ihre Nachteile: Aus dem dichten Verkehr wurde zähflüssiger, und schließlich gerieten wir mehrfach in einen kurzen Stau. Vor allem die Fahrt durch Denver war mühsam und dauerte länger als geplant. Zum Glück war Samstag, an einem Wochentag hätten wir vermutlich doppelt so lange gebraucht. Kaum hatten wir unser Hotel erreicht, fing es auch noch heftig an zu regnen. Ich hätte nicht gedacht, dass es hier im August so viel regnen würde (Las Vegas wurde bereits dreimal überschwemmt), aber besser in einer Großstadt als in einem Nationalpark, nicht wahr?
Wir beschlossen, nicht allzu viel zu unternehmen, gingen vietnamesisch essen und danach ins Kino, um Vengeance zu sehen. Auch am Folgetag stand nicht viel auf dem Programm: Wir erkundeten Downtown, begannen am Kapitol (goldene Kuppeln scheinen hier ein architektonisches Muss zu sein) und arbeiteten uns dann langsam vor bis zum ehemaligen Bahnhof Union Station, der heute ein Hotel beherbergt. Dazwischen lag die 16th Street, eine bekannte Einkaufsmeile mit vielen Restaurants und Geschäften.
Erstaunlicherweise waren sehr viele Restaurants geschlossen. Es waren zwar eine Menge Menschen unterwegs, aber vermutlich nicht so viele wie an einem normalen Bürotag. Auffällig ist, dass auch hier allüberall Personal gesucht wird. Man bekommt den Eindruck, dass in den USA während oder nach der Pandemie ungefähr dreißig Prozent aller Servicekräfte gekündigt haben (oder von Aliens entführt wurden).
Die 16th Street, die an unsere heimischen Fußgängerzonen erinnert, weil hier keine Autos fahren dürfen, dafür aber ein kostenloser Shuttle-Bus, erweckte jedoch leider den Eindruck, ihre besten Zeiten bereits hinter sich zu haben. Einige Blocks lang sah sie ungemein proper und gepflegt aus, mit interessanten Restaurants und kleinen Geschäften für exklusiven Tee, Hundedelikatessen oder handgemachte Seife. Dann nahmen die Baustellen zu, die Leerstände und geschlossenen Läden. Immer weniger Flaneure waren unterwegs, dafür immer mehr Obdachlose. Ein Drogensüchtiger bereitete den nächsten Schuss vor, ein geistig verwirrter Mann brüllte und schlug beim Gehen mit dem Kopf gegen die Schaufenster. Die Bürgersteige waren dreckig, es roch an etlichen Stellen nach Urin – wirklich einladend war das nicht.
Immerhin hat Denver viel alte Bausubstanz bewahrt. Es gibt zahlreiche schöne Gebäude aus dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, dazwischen moderne Bürobauten und etliche Hochhäuser. Und sehr viel öffentliche Kunst. Die meisten amerikanischen Großstädte sind an sich ja nicht sonderlich reizvoll, vielleicht sind wir als Europäer auch diesbezüglich zu sehr verwöhnt. Aber wir machen in erster Linie auch keine Städtereise …