Yellowstone feiert dieses Jahr seinen hundertfünfzigsten Geburtstag. Er ist damit der älteste Nationalpark der USA, sogar der Welt, und es steht zu befürchten, dass diese Tatsache noch mehr Besucher anlocken wird. Was, wenn man sich den Rummel vor den meisten Attraktionen und Aussichtspunkten anschaut, kaum möglich erscheint. Die beliebtesten Orte des Parks platzen förmlich aus den Nähten, und sich mit asiatischen Touristen um die besten Plätze zum Fotografieren prügeln zu müssen oder das permanente, lautstarke Gequake der Amerikaner auf den Videoaufnahmen zu haben, nervt.
Ich schiebe es auf die Pandemie, die mich zum Sozialphobiker gemacht hat, aber vielleicht liegt es auch daran, dass hier zu viele Menschen unterwegs sind, wenn man einfach nur in Ruhe die Naturschönheiten genießen will. Genug gejammert. Auch Venedig ist im Hochsommer erträglich, wenn man ein paar Kniffe kennt, und wenn die Alternative ist, auf diesen schönen Park zu verzichten, nimmt man doch gerne ein paar Unannehmlichkeiten in Kauf.
Auf der anderen Seite hat der Park immer noch unter den massiven Schäden durch das Hochwasser zu leiden. Im Nordteil sind immer noch etliche Straßen gesperrt, und auch im übrigen Park stießen wir mehrmals auf geschlossene Abzweigungen. Darüber hinaus erschweren einige Baustellen das Fortkommen. Es wird vermutlich noch lange dauern, bis alle Schäden beseitigt sind, zumal auch die üblichen Instandhaltungsarbeiten nicht vernachlässigt werden dürfen. Auf manchen Wanderwegen waren die Planken der Holzstege kaputt, und selbst in der Hauptverbindungsstraße, der Grand Loop Road, klaffen riesige Schlaglöcher.
Leider waren nicht nur Straßen und Byways geschlossen, sondern auch etliche Trails, was unsere Planung immer wieder über den Haufen geworfen hat. An unserem dritten Tag haben wir dies dann aber ganz absichtlich getan. Weil der Wetterbericht die Möglichkeit von Gewittern am Nachmittag vorhergesagt hat, entschieden wir uns, früh aufzubrechen. Und mit früh meine ich: um kurz nach sechs Uhr.
Wir fuhren eine gute Stunde zu der bekanntesten Attraktion von Yellowstone: Old Faithful. Der Weg dorthin begann im leichten Nieselregen, dichte Nebenschwaden hingen über den Bäumen und Bergen, und selbst nach Sonnenaufgang blieb es noch lange trübe und bewölkt. Irgendwie war es ungemütlich, und selbst die Wildtiere ließen sich nirgends blicken. Andererseits war ich noch so müde, dass ich vermutlich auch zwei am Waldrand Hula tanzende Bären in Baströckchen übersehen hätte.
Der Vorteil des frühen Aufstehens lag jedoch auf der Hand: Normalerweise wimmelt es beim Old Faithful, dem berühmtesten Geysir des Parks, nur so von Menschen. Doch um halb acht waren nur zwei, drei Dutzend dort, die sich den Ausbruch ansahen und genauso müde wirkten wie wir. Außerdem bekamen wir einen verdammt guten Parkplatz.
Wenn ich ehrlich bin, hat mich der Old Faithful ein klein wenig enttäuscht. Die Höhe seiner Fontäne schwankt, wie ich inzwischen weiß, zwischen dreißig und sechzig Metern, und vielleicht war er am frühen Morgen auch noch ein wenig müde, doch irgendwie hatte ich mir das Spektakel beeindruckender vorgestellt.
Dass der Geysir so beliebt ist, liegt vor allem an der Zuverlässigkeit seiner Natur, denn er spuckt in so regelmäßigen Abständen Wasser in die Luft, dass man beinahe die Uhr danach stellen könnte. Andere Geysire haben zwar höhere Fontänen, sind aber weit weniger zuverlässig. Da kann ein Ausbruch irgendwann innerhalb eines zwei Stunden-Zeitfensters stattfinden oder zu einem belieben Zeitpunkt zwischen heute und 2065. Dennoch haben wir Menschen gesehen, die geduldig auf den Bänken saßen und warteten. Wir sind leider nicht mit so viel Langmut gesegnet, weshalb wir auf die Ausbrüche des Grand, Giant, Riverdale oder Daisy Geysirs verzichtet und uns mit den weniger spektakulären Ausbrüchen jener Exemplare begnügt haben, die just in dem Moment aktiv wurden, als wir neben ihnen standen.
Unweit des Old Faithful gibt es einen sehr schönen Weg neben dem Firehole River, der zu zahlreichen Geysiren und farbenprächtigen Pools führt. Entsprechend heißt die Gegend Geyser Hill. Vor allem die heißen Wasserbecken sind grandios, schillern sie doch oft in den buntesten Farben. Schuld daran sind verschiedene Mineralien und Algen, die die Wasserlöcher in alle möglichen Schattierungen von Grün und Blau färben, während sie von orangenen, roten, braunen oder gelben Rändern umgeben sind. Der einzige Nachteil: Ihnen fehlt die Kraft zum Sprudeln, weshalb sie nur dampfen (und oft stinken), und dieser feine Nebel verschleiert die bunten Farben und macht es nicht einfach, sie zu fotografieren. Am liebsten würde man kräftig pusten und die Schwaden vertreiben, um diese intensiven Farbtöne besser genießen zu können.
Vom Geyser Hill ging es Richtung Norden, vorbei an weiteren Geysiren und Pools. Ich muss gestehen, man wird dabei mit der Zeit verwöhnt: Fotografiert man am Anfang noch jeden schwach vor sich hinblubbernden Geysir und monochromatischen Pool, zückt man spätestens nach dem fünfzigsten Mal nur noch die Kamera, wenn man mit einem besonders schönen Farbenspiel oder einer beeindruckenden Fontäne überrascht wird. Okay, manchmal reicht auch ein lustiges Rülpsen oder Schmatzen von einem Schlammvulkan.
Der Weg führte uns bis zum Biscuit Basin, wo wir uns auf einem Rundweg die dortigen Attraktivitäten ansahen, dann über den Artemisia Trail wieder zurück zum Old Faithful. Unterwegs haben wir einige der schönsten Quellen Yellowstones gesehen, etwa den Morning Glory Pool, den wir – früher Vogel! – ganz für uns allein hatten (auf dem Rückweg drängelten sich dann dort zwei Dutzend Menschen) oder den eisblauen Artemisia Geysir. Hier alle Highlights aufzulisten, würde zu weit führen, alle Fotos zu präsentieren, auch.
Nach dieser dreieinhalbstündigen Wanderung war es Zeit für eine Pause. Inzwischen hatte sich auch der Himmel immer mehr zugezogen, und die Gefahr eines Gewitters schien sehr real zu sein. Wir wollten im historischen Old Faithful Inn speisen, seit 1904 eines der größten Blockhäuser der Welt. Doch natürlich hatte das Restaurant geschlossen, und Sandwiches wollten wir auch keine. Blieben also wieder mal nur der Imbiss und ein Burger. Man kann sagen: die in unserem Village sind viel besser. Zur Abwechslung hatte ich mir eine Suppe bestellt, geröstete Paprika und geräucherter Gouda, die jedoch viel zu sauer war und nicht so gut geschmeckt hat, wie sie klang. Aber wir sind ja auch nicht wegen des Essens hier.
Am frühen Nachmittag ging es dann wieder zurück. Natürlich lagen noch einige Highlights an unserem Weg, etwa die Grand Prismatic Spring, die so groß ist, dass man, steht man davor, weder ihren Umfang noch ihre farbenprächtige Schönheit vollends erfassen kann. Daher sollte man sie von einem einige Meilen entfernten, auf einem Bergvorsprung gelegenen Aussichtspunktes aus betrachten. Was wir auch getan haben. Zusammen mit gefühlt zweihundert anderen Touristen. Der Weg zum Aussichtspunkt war eine Vielvölkerwanderung, der Aufstieg recht anstrengend (zumindest nach der langen Wanderung am Vormittag), und die Aussicht – okay. Die Quelle ist wirklich beeindruckend, überaus bunt und wunderschön, aber leider auch ziemlich weit weg. Und mit den spitzen Ellbogen der Nachbarn in den Rippen oder vor der Kameralinse und dem ungeduldigen Schnaufen des Hintermanns im Nacken, der einen am liebsten vom Felsen stürzen würde, um endlich einen Blick auf diese sagenhafte Quelle zu werfen, ist das Ganze nur ein begrenztes Vergnügen. Hinzu kommt ein Lautpegel, der es unmöglich macht, ein vernünftiges Video aufzunehmen. Von der Schwierigkeit, einen Parkplatz zu ergattern, ganz zu schweigen.
Im Anschluss an diese Erfahrungen mit dem modernen Massentourismus folgten vor allem kleinere Abstecher. Etwa über den Firehole Canyon Drive zu einem Wasserfall, als Alternative zum geschlossenen und lohnenderen Firehole Lake Drive. Dann ging es weiter zu den Gibbon Falls, der Beryl Spring und den Artists Paintpots. Noch mehr Wasserfälle, Geysire, Quellen und farbenprächtige Becken. Nur die Nebenstrecke zu den Virginia Cascades hätten wir uns sparen können, aber, wie gesagt, wir sind inzwischen ja auch verwöhnt. Es war ein anstrengender Tag. Mit über zwanzig Kilometern Wanderungen haben wir unseren persönlichen Rekord von 2005 gebrochen, keine Ahnung, wie viele Höhenmeter wir dabei zurückgelegt haben. Aber es war auch ein ungeheuer lohnender Tag mit vielen grandiosen Ausblicken, überraschenden Naturwundern und einer Landschaft, die ihresgleichen sucht. Wenn nur die Menschenmassen nicht wären …