„Lasst euch nicht erschießen.“ Wann immer wir uns in den letzten Tagen von Freunden oder Familienmitgliedern verabschiedet haben, wurde uns dieser Rat mit auf den Weg gegeben. Das sagt viel über das Image der USA oder über den Humor unserer Freunde. Seltsamerweise habe ich mich in Amerika diesbezüglich aber nie unsicher gefühlt. Angst habe ich eher vor Bären, von denen wir vermutlich einigen begegnen werden, Erdbeben, die in Kalifornien nie auszuschließen sind, und – Erdbeeren. Wer schon mal in den USA war und gesehen hat, dass Erdbeeren hier wochenlang im Kühlschrank frisch bleiben, weiß, was ich meine. Aber okay, wir werden uns nicht erschießen lassen. Versprochen.
Neun Monate. So lange haben wir geplant, gesucht, gebucht, geflucht und gewartet. In der Zeit bekommen andere Leute ein Baby, bauen ein Haus oder, wenn sie der chinesische Staat sind, eine ganze Stadt. Aber nun ist es endlich so weit, und wir sind in Kalifornien, wo es angenehm warm und sonnig ist und nicht so schwül-heiß wie in Deutschland.
Planung und Buchung waren diesmal relativ einfach, denn wir wussten, es würde in den Mittleren Westen, die Rocky Mountains und nach Yellowstone gehen. Doch dann kamen die Überschwemmungen, gefolgt von Planänderungen und Umbuchungen. Mit der Inflation, den explodierenden Benzinpreisen und dem schwachen Euro-Kurs kam dann auch noch Pech hinzu, und mitunter hatten wir das Gefühl, unsere Reise würde schon vor dem Abflug unter einem Unstern stehen.
Probleme bereitete vor allem die Suche nach einem Mietwagen. Während der Pandemie haben die Firmen nämlich ihre Flotten reduziert, und jetzt gibt es einen Mangel an Autos. Die Preise haben sich seit unserem letzten Aufenthalt ungefähr verdreifacht, und die ersten Angebote, die wir bekommen haben, waren so exorbitant hoch, dass wir sogar mit dem Gedanken gespielt haben, ein Auto zu kaufen, weil das nicht teurer gewesen wäre, aber dafür mit anderen Problemen verbunden. Erst nach langer, wirklich langer Suche und einigen organisatorischen Tricks, die Mark G. inzwischen auf Lager hat und die buchstäblich eine Menge Geld sparen, haben wir endlich ein akzeptables Angebot gefunden.
Eine weitere Hürde waren die Personalprobleme an den Flughäfen, durch die es laut Medienberichten in den letzten Monaten zu chaotischen Verhältnissen und stornierten Flügen gekommen war. Ich habe Bilder von weinenden Menschen gesehen, und gedacht: „Das könnten wir sein!“ Deshalb sind wir am Abreisetag zeitig aufgebrochen und waren rund vier Stunden vor dem Abflug am Flughafen – um dann in fünf Minuten unser Gepäck aufzugeben und nach weiteren fünfzehn Minuten die Sicherheitskontrolle zu passieren. Vielleicht war es Glück, vielleicht liegt es an den besonderen Bedingungen in München, aber wir hatten auf einmal sehr viel Zeit zum Frühstücken.
Unsere Reisevorbereitungen sehen ja immer so aus, dass wir die ganze Nacht davor noch hektisch versuchen, letzte Dinge zu erledigen, dann zu packen, den Koffer zu wiegen, zu fluchen und neu zu packen. Dass wir bereits jetzt am Rande des Gewichtslimits liegen, bevor wir eine exzessive Shoppingtour in den USA gestartet haben, liegt vor allem an den zehn Kilogramm Müsli. Ja, wir bringen Müsli in ein Land, in dem es mehr Sorten Cereals gibt als Biersorten in Deutschland, aber unsere Freunde lieben es, und die zehn Kilo werden vermutlich höchstens bis Weihnachten reichen. Sie lieben auch Döner, aber da macht der Zoll nicht mit, und ehrlich gesagt, ein bisschen Kleidung möchte ich schon mitnehmen.
Normalerweise kann ich in einem Flugzeug nicht schlafen, selbst dann nicht, wenn ich in der Nacht davor nur zwei Stunden im Bett war. Wir hatten zudem Plätze in der Nähe der Tür, wo es immer ein wenig kälter ist als im Rest der Maschine, und wenn ich friere, kann ich erst recht nicht schlafen. Es war sogar so kalt, dass ich überlegt habe, mein Mittagessen in der Box zu belassen und als Wärmeflasche zu benutzen. Aber mit Extra-Decken ging es irgendwie, und ich habe trotz allem und zum ersten Mal auf einem Flug fünf Stunden lang tief und fest geschlafen.
Deshalb war dies auch das erste Mal, dass ich nicht wie ein Zombie in die LAX-Ankunftshalle gewankt bin, sondern meine Umgebung wach und bewusst wahrgenommen habe. Mit ist vorher zum Beispiel nie aufgefallen, wie alt und heruntergekommen der Flughafen ist, der gerade einer milliardenteuren Renovierung unterzogen wird. Die Ankunftshalle sah aus wie eine Kulisse für Dantes Inferno, und jeder, der eintrat, sollte jede Hoffnung fahren lassen. Hunderte und Hunderte von genervten Passagieren standen in einer endlos langen, vierzehnfach gewundenen Reihe vor den Schaltern der Passkontrolle. Und höchstens zehn Prozent von ihnen trugen eine Maske und waren auch imstande, sie korrekt aufzusetzen. Corona? War da mal was?
Natürlich war der Beamte, dem wir zwei geschlagene Stunden später gegenüber standen, unfreundlich und pampig, das gehört vermutlich zu seiner Berufsbeschreibung, und ich glaube, sie stellen per se niemanden ein, der lächeln kann. Wieder wurden viele Fragen gestellt – „Was machen Sie zehn Wochen lang in den USA?“ – und unsere unschuldigen Antworten – „Urlaub. Wandern.“ – skeptisch belächelt. Aber Mark G. ist immer gut vorbereitet, und nachdem wir dem Mann unsere diversen Reservierungen gezeigt hatten, deren Umfang ungefähr dem von „Krieg und Frieden“ entspricht, durften wir großzügigerweise einreisen.
Auch vor dem Flughafen herrschte das blanke Chaos, Dutzende Autos wetteiferten um die wenigen Plätze zum Halten, uniformierte Ordner schnauzten jeden an, der länger als dreißig Sekunden lang hielt, um Passagieren und deren Gepäck einzusammeln, und dass wir in der Zeit nur einen Unfall beobachtet haben, grenzte beinahe an ein Wunder. Irgendwie sind wir dem Tohuwabohu entkommen und konnten uns dann in Gardena von den Strapazen ausruhen. Zu diesem Zeitpunkt dachte ich noch, das Schlimmste liege nun hinter uns, und die nächsten zwölf Tage können wir relaxen, unsere Lieblingsessen genießen und am Strand faulenzen. Was für ein Irrtum!