The Nightingale

In letzter Zeit habe ich einige australische Produktionen gesehen, beispielsweise Mr. Inbetween, eine Serie über einen Auftragsmörder, der versucht, seinen Job mit seinem Leben als geschiedener Vater unter einen Hut zu bekommen. Die erste Staffel ist sehr schwarzhumorig, die zweite eher dramatisch, aber immer noch gut, die dritte erscheint nächsten Monat bei Disney+. Aber heute geht es um eine andere australische Produktion.

Vielleicht erinnert sich der eine oder andere Leser daran, dass ich mal beiläufig erwähnt habe, ein Fan historischer Stoffe zu sein. Einmal pro Woche schaue ich mir an, welche neuen Filme und Serien auf den diversen, mir zur Verfügung stehenden Streamingplattformen erschienen sind (diese Website ist diesbezüglich relativ verlässlich und hat auch eine Suchfunktion, wenn man sich gezielt für einen Titel interessiert). So bin ich auf diese Produktion aufmerksam geworden, die bei Prime Video zu sehen ist.

The Nightingale

1825 hat Clare (Aisling Franciosi) ihre Strafe wegen Diebstahls in der Strafkolonie von Tasmanien bereits verbüßt, den ehemaligen Häftling Aiden (Michael Sheasby) geheiratet und mit ihm ein Baby bekommen, dennoch weigert sich der Befehlshaber Hawkins (Sam Claflin), ihr die notwendigen Entlassungspapiere auszustellen. Hawkins hat eine Schwäche für Clare und ihre wunderschöne Stimme, die ihr den Spitznamen Nachtigall eingebracht hat, weshalb er sie häufig zu Auftritten nötig – und sie missbraucht.

Als Aiden gegen die Ungerechtigkeit protestiert, überfällt Hawkins mit seinem Kameraden Ruse (Damon Herriman) und einem weiteren Soldaten das Paar, tötet Aiden und das Baby und lässt Clare verletzt zurück. Als sie wieder zu sich kommt, sind die Männer bereits zu einer entlegenen Stadt aufgebrochen, wo Hawkins sich um eine Beförderung bewerben will. Clare engagiert daraufhin den Aborigine Billy (Baykali Ganambarr), um den Soldaten in die Wildnis zu folgen und Rache zu nehmen.

Das Tempo, das Regisseurin Jennifer Kent, die auch das Drehbuch schrieb, an den Tag legt, ist eher gemächlich, und so dauert es eine Weile, bis man einen Zugang zu der Geschichte gefunden hat. Das ändert sich jedoch spätestens mit der ungeheuer intensiven und brutalen Mordszene, die wie ein plötzlicher Stromschlag wirkt. Man kann Clares Wut, Trauer und Verzweiflung gut nachvollziehen, denn als Sträfling hat sie keinerlei Rechte und keinerlei Anspruch auf Gerechtigkeit. Etwas anderes als Selbstjustiz bleibt ihr daher gar nicht übrig, auch wenn damit ihr eigenes Schicksal beschieden ist.

Clare ist eine differenziert geschildete Heldin. Anfangs wird sie zum hilflosen Spielball der Mächtigen, dann zum wehrlosen Opfer, mit dem man mitleidet. Als tapfere, entschlossene junge Frau trotzt sie jedoch allen Widrigkeiten, und es gelingt ihr nach einiger Zeit sogar, Rache an einem der Soldaten zu nehmen. Auch dieser Gewaltakt ist ungeheuer brutal und intensiv inszeniert, und er verändert Clare nachhaltig. Das Psychogramm, das Kent zeichnet, ist vielschichtig und geht in die Tiefe. Clare wird nach dem Rachemord mit ihrem Gewissen konfrontiert und von den Geistern der Toten heimgesucht, wodurch sich ein spannender innerer Konflikt ergibt.

Clare ist jedoch keine strahlende Heldengestalt. Als Kind ihrer Zeit blickt sie auf die Aborigines herab, ruft Billy anfangs nur „Boy“, wie es alle Weißen tun, und hält ihn für einen Wilden. Erst im Verlauf ihrer gemeinsamen Reise kommen sie sich näher und entdecken, dass gefangene Iren und tasmanische Ureinwohner gleichermaßen unter den Briten zu leiden haben. Ihr Hass schmiedet ein Band, und aus der Zweckgemeinschaft erwächst langsam Freundschaft und gegenseitiger Respekt.

Auch Billy hat zahlreiche Verluste durch die britischen Soldaten hinnehmen müssen, möglicherweise ist er sogar der letzte Überlebende seines Stamms. Kent schildert die Gräuel der britischen Besatzer nur nebenbei, zeigt einmal baumelnde Leichen von Ureinwohnern und die willkürliche Hinrichtung von Gefangenen, liefert auf diese Weise aber einen eindringlichen Appell gegen Rassismus und Unterdrückung ab.

Hawkins wird hingegen weniger subtil gezeichnet, er ist böse, hinterhältig und brutal, ein Schlächter und Narzisst, der nur auf sein eigenes Vorankommen fixiert ist. Das macht den Stoff auch zu einer Abrechnung mit weißen, engstirnigen Männern, unter denen Frauen und Minderheiten zu leiden haben. Damit passt der Film gut in die Zeit, dennoch wäre eine weniger plakative Charakterzeichnung wünschenswert gewesen.

Ist die erste Hälfte des Films größtenteils spannend erzählt, wandelt sie sich in der zweiten zunehmend zu einem Psychogramm der Heldin. Ihre Zweifel, ob sie fähig ist, ihre blutige Rache zu vollziehen, nehmen zu, das Tempo hingegen ab. Dadurch entstehen leider ein paar Längen, bevor die Story zu einem etwas unentschlossenen, aber überraschenden Ende findet.

Note: 3+

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Über Pi Jay

Ein Mann des geschriebenen Wortes, der mit fünfzehn Jahren unbedingt eines werden wollte: Romanautor. Statt dessen arbeitete er einige Zeit bei einer Tageszeitung, bekam eine wöchentliche Serie - und suchte sich nach zwei Jahren einen neuen Job. Nach Umwegen in einem Kaltwalzwerk und dem Öffentlichen Dienst bewarb er sich erfolgreich an der Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg. Er drehte selbst einige Kurzfilme und schrieb die Bücher für ein halbes Dutzend weitere. Inzwischen arbeitet er als Drehbuchautor, Lektor und Dozent für Drehbuch und Dramaturgie - und hat bislang fünf Romane veröffentlicht.