Vor einigen Jahren habe ich Ewige Jugend gesehen und war von Paolo Sorrentinos magischer Bildsprache begeistert. Daher steht seitdem auch sein Oscar-prämierter La Grande Bellezza – Die große Schönheit auf meiner Watchlist – und wird dort noch länger stehen, da ich ihn zwar auf Blue Ray habe, jedoch kein passendes Abspielgerät besitze.
Vergangenen Herbst kam jedoch sein neuer Film zu Netflix, und jetzt war ich in der richtigen Stimmung, um mich in das Neapel der Achtziger zurückversetzen zu lassen.
Die Hand Gottes
Fabietto (Filippo Scotti) wächst mit seinem Bruder Marchino (Marlon Joubert) und seiner Schwester, die sich permanent im Bad eingeschlossen hat, in einer bürgerlichen Familie in Neapel auf. Seine Eltern (Toni Servillo und Teresa Saponangelo) sind einander sehr zugetan, bis die langjährige Geliebte des Vaters den Ehefrieden stört und Fabietto herausfindet, dass sein Vater mit ihr ein Kind hat. Der 17jährige ist vor allem von seiner sinnlichen, psychisch instabilen Tante Patrizia (Luisa Ranieri) betört, beobachtet aber auch fasziniert den lauten, exzentrischen Familienclan, der – zusammen mit einer Tragödie, die sein Leben für immer verändert wird – ihn schließlich dazu inspiriert, Filmemacher zu werden.
Filme mit starkem autobiografischen Hintergrund laufen häufig Gefahr, die Vergangenheit zu glorifizieren und glattzubügeln. Auch über Sorrentinos Jugenderinnerungen liegt ein sanfter, nostalgischer Schleier, der vor allem von Wehmut und Verlust durchwebt ist. Über die Tragödie, die sich ereignet und die dem Film, der bis zu diesem Moment eher heiter-groteske Unterhaltung geboten hat, soll nicht zu viel verraten werden, sie verleiht der Erzählung jedoch eine bittere Süße und zerreißt gleichzeitig das Gewirk der Erinnerung.
Die Geschichte beginnt mit einer Lüge, die Patrizia ihrem Mann erzählt, den sie wiederholt betrogen hat: Angeblich ist sie dem Schutzheiligen Neapels begegnet, der sie zum einem kleinen Mönch geführt habe, um ihre Kinderlosigkeit zu heilen. Mit dieser Fabel verleiht Sorrentino seinem Film ein magische, surreale Note, die in dieser Form nicht wiederkehrt, verdeckt aber immer mitschwingt, und führt den Zuschauer in eine Welt ein, die eine elegante Lüge ist, hinter der sich die Wahrheit verbirgt. Fabietto nennt Patrizia, als er sie am Ende des Films in einer psychiatrischen Einrichtung besucht, seine ewige Muse, und es scheint, als hätte Sorrentino ihr hier ein kleines Denkmal setzen wollen: Patrizia ist sinnlich, selbstbewusst und sexuell gefährlich, sie liebt es, sich nackt in die Sonne zu legen und die entsetzten Blicke ihrer Familie zu ignorieren, sie provoziert und stellt das strenge patriarchalische System der Gesellschaft in Frage, woran sie schließlich zerbricht.
Neben Patrizia spielt vor allem die exzentrische Familie Fabiettos eine große Rolle, die unsichtbare Schwester, die man erst gegen Ende kurz zu sehen bekommt, die ewig fluchende, in ihrem Pelzmantel in der sengenden Sonne schmorende Matriarchin, die von allen nur gehasst wird, oder der überfreundliche, allen auf die Nerven gehende Verehrer der fetten Cousine, sie alle sind skurrile Gestalten, die einen zum Lachen bringen. Sorrentino wirft auch einen liebevollen Blick auf die Eltern, die einander zwar lieben, deren Beziehung aber auf eine schwere Probe gestellt wird. Die besten Momente des Films gehören dabei der Mutter, die anderen gerne Streiche spielt.
Man kann Die Hand Gottes als das Erwachen eines jungen Mannes sehen, der erste sexuelle Erfahrungen sammelt (in einer unangenehmen, auf mehreren Ebenen verstörenden Sexszene), sich halbherzig in eine hübsche Schauspielerin verguckt und über sie schließlich einen bekannten Regisseur kennenlernt, der ihm erste Ratschläge fürs Filmemachen gibt. Fabietto geht es aber nicht um die Magie des Kinos, für Filme interessiert er sich kaum, sondern um die Möglichkeit, der hässlichen Realität zu entfliehen. Auch Fellini taucht auf, jedoch nur als Schatten, als Marchino sich bei ihm um eine Komparsenrolle bewirbt, und Sorrentino greift nicht nur seine Bildsprache auf, sondern lässt ihn sogar persönlich zu Wort kommen, als er in einem Radiointerview das Kino den einzigen Ort nennt, an dem wir unsere elende Existenz vergessen können.
Der zweite große Unsichtbare im Film ist natürlich Maradonna, der damals in Neapel unter Vertrag war. Auch wenn der Film den Anschein erweckt, in einem einzigen Sommer zu spielen, liegen zwischen Maradonnas Ankunft in der Stadt und dem berühmten Handspiel in der Weltmeisterschaft zwei Jahre. Aber Zeit verliert in der Erinnerung ohnehin jede Bedeutung.
Die Hand Gottes ist eine bunte Tüte. Man findet eine Menge witzige Szenen, andere bringen einen zum Nachdenken oder verleiten zum Träumen. Es geht ums Filmemachen, Fußball, Sex, Religion, Kriminalität, kurz gesagt, um das Leben in Neapel, das wie eine große Bühne ist, auf dem Figuren schnell auftauchen und wieder verschwinden. Bei all dem geht Fabietto leider etwas unter, ausgerechnet die Hauptfigur bleibt völlig blass und austauschbar und damit am wenigsten in Erinnerung. Und das ist für einen Coming-of-Age-Film schon etwas sonderbar.
Note: 3