Hollywood, wir haben ein Problem

In den vergangenen Jahren habe ich in der Woche vor der Oscarverleihung immer meine Prognose abgegeben – dieses Jahr hatte ich die Veranstaltung nicht einmal auf dem Schirm und dachte, sie würde erst in drei Wochen stattfinden. Natürlich könnte man argumentieren, dass ich zurzeit einfach ein bisschen verpeilt bin oder bekanntlich schon seit Jahren keinen Pfifferling darauf gebe, wer gewinnt, aber anscheinend bin ich nicht der Einzige, der sich fragt, ob man diese Show wirklich noch braucht.

Der Academy Award of Merit, wie der Oscar offiziell heißt, ist ein Kind der Krise: Ende der Zwanzigerjahre gingen die Besucherzahlen zurück, weil die Menschen lieber zu Hause blieben und sich dort berieseln ließen. Kommt einem heute seltsam vertraut vor, nur saßen die Leute damals vor dem Radio. Die Studios mussten sich daher etwas einfallen lassen, um das Publikum wieder für ihre Produktionen zu begeistern, und neben der Einführung des Tonfilms kam man auf die glorreiche Idee, bei einer pompösen Preisverleihung die Werbetrommel für Hollywood rühren.

Wobei sich der Glamour anfangs in Grenzen hielt. Als im Mai 1929 die ersten Oscars verliehen wurden, geschah das mehr oder weniger unter Ausschluss der Öffentlichkeit, weil man die Preisträger schon drei Monate vorher verkündet hatte und an dem Tag kein Hahn mehr danach krähte. Deshalb gibt es auch kein Foto von diesem denkwürdigen Ereignis. Aber Hollywood lernte dazu, und über die Jahre hinweg wurde die Oscarverleihung zur strammen Leistungsschau Hollywoods, begeistert verfolgt von den Fans (seit 1953 auch im Fernsehen), und Filmschaffende bekamen Trophäen für ihre Kunst wie Bauern Medaillen für die dicksten Kürbisse. Alles war gut.

Nach dem Superbowl war die Oscarverleihung über Jahrzehnte hinweg das zweitbeliebteste TV-Event des Jahres und hatte noch 2001 knapp 43 Millionen Zuschauer, zwanzig Jahre später waren es nicht einmal mehr zehn Millionen. Die letztjährige Preisverleihung war das Traurigste, das ich seit langem im Fernsehen verfolgt habe, und erinnerte mich an einen Zahnarztkongress, der aus einer Bahnhofshalle übertragen wurde. Und das mit der Bahnhofshalle ist nicht einmal ein Scherz.

Natürlich waren die Rahmenbedingungen aufgrund der Pandemie schwierig, und die Regie Steven Soderbergh zu überlassen, der bekanntlich nicht in der Lage ist, Emotionen zu inszenieren und sogar die Totenehrung vermasselt hat (was gerade in diesen Zeiten eine Leistung ist, allerdings keine preiswürdige), war ebenfalls keine gute Idee. Die Veranstaltung war bleiern und zäh und verstieß damit gegen das oberste Gebot Hollywoods, das besagt: Du sollst nicht langweilen.

Pandemie hin oder her, der Oscar bzw. die Oscarverleihung und damit die Academy stecken in einer handfesten Krise, und auch wenn es dieses Jahr nur besser werden konnte, fragt man sich langsam, ob diese nicht vielleicht größer ist als angenommen. Die schärfsten Kritiker sehen bereits das Ende des Kinos, sogar des Films heraufdämmern, aber ich denke, so weit sind wir noch lange nicht. Dennoch wird immer deutlicher, dass das Interesse des Publikums schwindet.

Die Academy hat einige Versuche angestellt, die Oscar-Show aufzupeppen, aber die Ideen, einen Oscar für den besten „populären“ Film zu verleihen oder die Zuschauer via Twitter einen Lieblingsfilm küren zu lassen, sind eher peinlich als konstruktiv. Effektiver wäre es vermutlich, die ausufernde Werbezeit zu reduzieren. Ein witziger Gastgeber wie seinerzeit Steve Martin oder Billy Crystal würde mit Sicherheit auch nicht schaden. Aber das alles sind mehr oder weniger kosmetische Korrekturen, die am eigentlichen Problem nicht viel ändern dürften.

Wenn der Konsument ein Problem mit dem Produkt hat, können selbst eine raffinierte Verpackung oder ein Qualitätssiegel nicht viel daran ändern. Aber das bedeutet deshalb nicht gleich, dass der Zuschauer das Interesse am Kino oder gar am Film selbst verloren hätte. Es gibt auch Stimmen, die die Schuld bei der Wokeness der Hollywood-Eliten suchen, deren Einfluss dafür sorgt, dass lauter politisch korrekte Filme produziert und nominiert würden, die kein Mensch mehr sehen wolle. Vor allem nicht die Einwohner der konservativen Bundesstaaten. Kommt statt #oscarsowhite nun #oscarsowoke?

Dies ist ein Thema, das so komplex ist, dass es einen eigenen Artikel verdient hätte. Grundsätzlich muss man festhalten, dass die Klagen über mangelnde Diversität bei der Besetzung von Filmrollen und damit auch bei den Nominierungen für diverse Auszeichnungen, absolut gerechtfertigt waren. Hollywood musste sich ändern, um der Welt, in der wir leben, Rechnung zu tragen, genauso wie die #MeToo-Bewegung notwendig war, um bestimmte Übeltäter zur Verantwortung zu ziehen und insgesamt ein besseres Klima zu schaffen.

Die Frage ist nur, mit welchen Mitteln diese Veränderungen herbeigeführt werden. Dass die Academy mehr Frauen und people of color in ihre Reihen aufgenommen hat, war der richtige Schritt, ob es die geplanten Vielfältigkeitskriterien sind, die in zwei Jahren in Kraft treten sollen, darf man hingegen bezweifeln. Proporzdenken kann in manchen Bereichen funktionieren, in der Kunst eher nicht.

Wenn der Zuschauer also das Interesse an den nominierten Filmen verloren hat und deshalb die Oscarverleihung ignoriert, liegt das in erster Linie an den Filmen selbst. Sehen wir uns nur einmal an, welche Produktionen in den Achtzigern und Neunzigern den Oscar für den besten Film gewonnen haben: Amadeus (1985), Jenseits von Afrika (1986), Rain Man (1989), Der mit dem Wolf tanzt (1991), Das Schweigen der Lämmer (1992), Schindlers Liste (1994), Forrest Gump (1995) oder Titanic (1998) sind allesamt moderne Klassiker und waren gleichzeitig riesige Publikumserfolge, und auch die meisten anderen nominierten Filme haben viel Geld eingespielt. Acht der zehn an den Kassen erfolglosesten Oscargewinner stammen hingegen aus den letzten zehn Jahren, und ihre durchschnittliche Besucherzahl lag bei mageren 8 Millionen (in den Neunzigern waren es 41 Millionen und selbst in der ersten Dekade dieses Jahrhunderts noch 23 Millionen). In diesem Jahr war Dune der erfolgreichste Film unter den nominierten, und der Abstand zu den anderen könnte kaum größer sein, denn er hat mehr als doppelt so viel Geld eingespielt wie alle neun anderen Produktionen zusammengenommen.

Abgesehen von Dune waren in diesem Jahr allenfalls West Side Story und Nightmare Alley mit den „altmodischen“ Oscar-Filmen vergleichbar: aufwändig und prachtvoll inszeniert und mit Starbesetzung. Und alle drei Filme sind Remakes oder Neuverfilmungen. Es scheint, als fiele Hollywood nichts mehr ein oder als trauten sich die Studiobosse nicht, viel Geld in eine Produktion zu stecken, die kein Franchise-Potential besitzt (weshalb man Dune schon wieder von der Liste streichen könnte). Dabei muss man nicht einmal ein großes Budget in die Hand nehmen, um einen populären und preiswürdigen Film zu schaffen (neben einigen oben bereits genannten Filmen fielen mir da noch Der Club der toten Dichter, Feld der Träume oder Mondsüchtig ein). Doch solche Filme werden nicht mehr oder kaum noch gemacht.

Diese Diskussion ist nicht neu. Schon als Ziemlich beste Freunde in die Kinos kam, stellten Mark G. und ich überrascht fest, dass dies genau die Art von Film ist, die Hollywood früher en masse produziert, aber inzwischen aufgegeben hat, und dass die Europäer dieses Vakuum nutzen sollten. Ein anderes Beispiel ist für mich Coda – das Remake eines französischen Films (sind es nicht immer die Franzosen?), das über den „Umweg“ Europa zu Oscarehren kommt. Man suche die Ironie.

Vielleicht zeichnet sich in Hollywood auch gerade nur eine Teilung ab, die es bei uns schon seit Jahrzehnten gibt: Die Unterscheidung in E und U, in Hochkultur und Populärkultur. Auf der einen Seite gibt es die künstlerisch wertvollen Festival-Filme, von den Kritikern hochgelobt, vom Publikum aber weitgehend verschmäht, auf der anderen das beliebte, aber bis auf bestimmte technische Kategorien eher preisunwürdige Popcornkino. Vielleicht sind die Zeiten der anspruchsvollen Unterhaltung einfach vorbei.

Wie es mit den Oscars weitergehen wird, wird die Zukunft zeigen. 2021 waren noch Filme ohne Kinoauswertung zugelassen, um den Einschränkungen durch die Pandemie Rechnung zu tragen. Man darf gespannt sein, ob der Geist brav in seine Flasche zurückkehren wird oder die Oscars bald von den Streamingdiensten dominiert werden. Immerhin ist Netflix der größte Verlierer des Abends, und der Großteil der Preise ging an Filme, die regulär im Kino ausgewertet wurden. Andererseits hat mit Coda dieses Jahr zum ersten Mal die Produktion eines Streamingdienstes den Preis für den besten Film geholt (allerdings hat Apple TV+ den Film nicht produziert, sondern ihn in Sundance gekauft).

Die gute Nachricht ist: So schlecht wie im vergangenen Jahr war die Oscarverleihung diesmal nicht. Die Show war recht flott inszeniert, abwechslungsreich und über weite Strecken unterhaltsam. Peinlich waren eigentlich nur die Hitlisten der Fans. Selbst die im Vorfeld kritisierte Entscheidung, die Verleihung einiger Preise vorab vorzunehmen und nur aufgezeichnete Ausschnitte zu zeigen, entpuppte sich als geschickter Schachzug, auch um ausufernde Reden zu verkürzen. Sicher, es wäre schön gewesen, die Gastgeberinnen häufiger zu sehen. Einige ihrer Witze waren dafür erfreulich politisch unkorrekt – wären bei einem männlichen Moderator aber niemals durchgegangen, und sowohl die Wokeness als auch die politischen Statements hielten sich in Grenzen. Sogar einen Eklat gab es, als Will Smith auf die Bühne stürmte und Chris Rock eine gescheuert hat. Und seltsamerweise sah dieser Schlag total fake aus…

Autorin und Regisseurin Sian Heder hat in ihrer Dankesrede erwähnt, wie schwierig es war, ihren kleinen Independentfilm zu finanzieren. Angesichts der Tatsache, dass Coda am Ende sogar als bester Film ausgezeichnet wurde, sollten die Studiobosse überlegen, ob man nicht wieder mehr solche Filme produzieren und vor allem im Kino auswerten sollte.

Und falls die Einschaltquoten bei der Gala weiterhin auf einem niedrigen Niveau verharren oder sogar noch weiter in den Keller gehen sollten, falls die neuen Kriterien dafür sorgen, dass nur noch politisch korrekte, aber langweilige Produktionen eine Chance auf eine Nominierung haben, kann sich die Academy immer noch überlegen, die Preise einfach ohne Fernsehshow zu verleihen. Fernsehshows sind ja ohnehin so zwanzigstes Jahrhundert.

Übrigens: 1931 wurde erstmals eine Oscarverleihung auf Film aufgenommen – und dauerte keine acht Minuten. Einen solchen Zusammenschnitt könnte man heute auch auf Twitter zeigen …

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Über Pi Jay

Ein Mann des geschriebenen Wortes, der mit fünfzehn Jahren unbedingt eines werden wollte: Romanautor. Statt dessen arbeitete er einige Zeit bei einer Tageszeitung, bekam eine wöchentliche Serie - und suchte sich nach zwei Jahren einen neuen Job. Nach Umwegen in einem Kaltwalzwerk und dem Öffentlichen Dienst bewarb er sich erfolgreich an der Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg. Er drehte selbst einige Kurzfilme und schrieb die Bücher für ein halbes Dutzend weitere. Inzwischen arbeitet er als Drehbuchautor, Lektor und Dozent für Drehbuch und Dramaturgie - und hat bislang fünf Romane veröffentlicht.