Kurz vor Weihnachten war ich auf der Suche nach Filmen, die von ihrer Tonalität gut zur Jahreszeit passen, und bin dabei auf meiner Festplatte auf Goodbye, Mr. Chips gestoßen, den ich vor längerer Zeit aufgenommen hatte. Irgendwie hatte ich im Hinterkopf, dass dies einer der weniger bekannten Klassiker der Filmgeschichte ist, die man mal gesehen haben sollte, ohne allzu viel über die Produktion zu wissen. Die Inhaltsangabe verortete die Handlung im Jahr 1870, und so freute ich mich auf einen Historienfilm …
Goodbye, Mr. Chips
Arthur Chipping (Peter O’Toole) unterrichtet 1924 Latein am Jungen-Internat Brookfield bei London. Weder bei den Schülern noch bei seinen Kollegen ist er sonderlich beliebt, denn er gilt als prinzipienstreng und langweilig. Als er in den Ferien einen ehemaligen Schüler in London besucht, stellt dieser ihm seinen Schwarm vor, die gefeierte Soubrette Katherine Bridges (Petula Clark). Chipping ist von ihrer herzlichen, aber auch sehr extrovertierten Art eingeschüchtert und tritt von einem Fettnäpfchen ins andere. Wenige Wochen später trifft er Katherine unverhofft in Pompeji wieder. Die beiden verbringen Zeit miteinander, und Chipping lernt Katherine von einer nachdenklicheren Seite kennen, denn die Soubrette hinterfragt ihre Karriere und ihren ganzen Lebenswandel und ist darüber hinaus von Chippings Ruhe und seinem enormen Wissen zutiefst beeindruckt. Wider Erwarten verlieben sich die beiden ineinander …
Wenig über einen Film zu wissen und dann noch falsche Erwartungen an ihn zu haben, ist das sicherste Rezept für einen überraschenden Fernsehabend. Warum in der Inhaltsangabe 1870 als Beginn der Handlung vermerkt war, habe ich erst verstanden, als ich mich näher mit der Entstehungsgeschichte befasst habe, und das war nicht die einzige Überraschung, denn der Film entpuppte sich zudem als Musical. Oder zumindest als eine Art von Musical.
Die Novelle von James Hilton, die dem Film zugrunde liegt, entstand 1933, kurz nachdem der Autor sein berühmtestes Werk, Der verlorene Horizont, veröffentlicht hatte. Sie war ein Beitrag zur Weihnachtsausgabe einer Wochenzeitung und nicht sonderlich erfolgreich. Das änderte sich erst, als eine amerikanische Zeitschrift das Werk publizierte und ein Verlag einen Kurzroman daraus machte. Interessanterweise sorgte ausgerechnet die große Beliebtheit von Leb wohl, alter Chips! (wie die deutsche Übersetzung von 1936 betitelt wurde), dass Der verlorene Horizont zu einem Erfolg wurde.
Tatsächlich beginnt der Roman im Jahr 1870, als Chipping seine Stelle als Lateinlehrer antritt, und endet mit seinem Tod 1933 als über Achtzigjähriger. Der Stoff wurde schon früh fürs Radio und das Theater adaptiert, und kam 1939 zum ersten Mal in die Kinos. Ausgerechnet in jenem Jahr, das als das beste der Kinogeschichte gilt und zahlreiche Klassiker hervorgebracht hat. Erstaunlicherweise mauserte sich dieses beschauliche Stück über einen verliebten Lateinlehrer zu einem Hit und war nach Vom Winde verweht, Der Zauberer von Oz und Mr. Smith geht nach Washington der erfolgreichste Film des Jahres. Außerdem bescherte er Hauptdarsteller Robert Donat einen Oscar, begründete Greer Garsons Karriere und gleichzeitig das Mentor Movie-Genre.
Kein Wunder, dass MGM bereits Anfang der Fünfziger daran dachte, ein Remake zu machen. Dieser Plan wurde immer wieder verschoben und veränderte sich mit der Zeit, bis man Mitte der Sechziger auf die Idee kam, ein Musical daraus zu machen, mit Rex Harrison und Julie Andrews in den Hauptrollen und Vincente Minelli auf dem Regiestuhl. Dazu kam es aber nie, und so wurde der Film schließlich mit anderer Besetzung und von Herbert Ross inszeniert, der mit diesem Streifen seine große Karriere startete. Die Musik stammt übrigens von John Williams.
Aber langer Rede kurzer Sinn: Wie ist denn nun der Film von 1969? Überraschend unterhaltsam, aber auch etwas verwirrend. Im Kern wurde die anheimelnde Geschichte von James Hilton, halb Hymne auf den Humanismus, halb typisch britische Internatsschrulle, beibehalten. Peter O’Toole, der ebenso wie sein Vorgänger für die Rolle oscarnominiert wurde, aber leer ausging, spielt den kauzigen, verknöcherten Pädagogen, der schließlich von seinen Gefühlen überrumpelt wird und durch die Liebe zu seiner Frau ein gütiger, allseits beliebter und geachteter Lehrer wird, vollkommen überzeugend. Petula Clark verleiht ihrer Rolle etwas Keckes und Erfrischendes, muss sich aber dem Diktat der Zeit geschlagen geben. Auch wenn ihre Interpretation der lebenslustigen Katherine der Figur durch den Status des gefeierten Operettenstars mehr Unabhängigkeit und sogar etwas Freigeistiges verleiht, endet sie als Heimchen am Herd, das zufrieden die Bühnenkarriere an den Nagel hängt, um die liebende Ehefrau eines Lehrers zu werden. Das wirkt etwas gezwungen und ist vermutlich allein der Tatsache geschuldet, auf diese Weise wenigstens eine aufwändig produzierte Revuenummer unterzubringen. Immerhin stirbt sie nicht wie ihre Vorgängerinnen im Kindsbett.
Die Umwandlung des Stoffes in ein Musical ist leider nicht gelungen. Wie gesagt, es gibt nur eine opulente Tanz- und Gesangseinlage, der Rest sind eher begleitende Lieder, die zudem nahezu ausschließlich im Off vorgetragen werden. Während der Popstar Petula Clark diese gut meistert, klingt Peter O’Toole (oder zumindest sein Synchronsprecher, denn die Texte wurden auch noch eingedeutscht) ziemlich dünn. Die großartige Kritikerin Pauline Kael schrieb dazu: „Eine bombastische Version mit Liedern, wo sie nicht benötigt werden.“ Das trifft es ziemlich genau.
Auch war die deutsche Version, die auf TNT-Film (ich glaube, der Sender heißt nun Warner TV-Film) ausgestrahlt wurde, merkwürdig uneinheitlich. In einer Szene sieht man etwa Petula Clark singend durch London streifen, doch auf der Tonspur ist nur ein Instrumental zu hören. Dann werden Szenenteile im Original eingebettet, aber nur eine längere Szene am Ende ist auch untertitelt. Als wäre die Version vor der Ausstrahlung nicht fertig geworden.
Doch trotz dieser Unzulänglichkeiten, wozu man auch die Unfähigkeit der Maskenbilder zählen muss, Aussehen und Frisuren der jeweiligen Zeit oder dem Alter der Figuren anzupassen, ist der Film sehr vergnüglich. Das liegt an einigen wunderbar pointierten Dialogen und einer großartigen Nebenfigur (eine berühmte Schauspielerin namens Ursula Mossbank, gespielt von Siân Phillips), die so herrlich unkonventionell ist, dass sie jede ihrer Szenen dominiert.
Hat Goodbye, Mr Chips 1939 tatsächlich das Mentor Movie-Genre begründet? Abgesehen von Teufelskerle mit Spencer Tracy, der ein Jahr zuvor erschien, allerdings von einem charismatischen Priester handelt, fällt mir kein weiterer Film ein, der als Blaupause für dieses Genre dienen könnte. Insgesamt sollte man wohl den Einfluss dieses Klassikers auf Filme wie Der Club der toten Dichter nicht unterschätzen. Während es 1984 und 2002 noch weitere Adaptionen des Stoffes fürs Fernsehen gab, wurde der Film von 1939 bei uns erst 1998 das erste Mal aufgeführt. Ich hoffe, ihn irgendwann einmal sehen zu können.
Aber auch das Remake mit Peter O’Toole ist sehenswert, amüsant und zum Ende hin sogar bewegend. Es ist vielleicht nicht so gut wie das Original, trägt aber gerade durch seine Unperfektheit zusätzlich zur Unterhaltung bei …
Note: 3