Der eine oder andere Leser wird sich sicherlich noch an die Unruhen in den Pariser Vororten von 2005 erinnern, die zu den schlimmsten gehören, die Frankreich je erlebt hat. Diese haben den französischen Filmemacher Ladj Ly inspiriert, einen Dokumentfilm darüber zu drehen, aus dem 2018 ein Kurzfilm wurde, der wiederum als Vorlage für diesen Langfilm diente. Inspiriert wurde Ly zudem von Victor Hugos Meisterwerk Les Misérables, das ebenfalls in den Pariser Vororten angesiedelt ist und von verzweifelten Menschen handelt, die gegen soziale Benachteiligung und Ungerechtigkeit aufbegehren. Lys Debütfilm schlägt damit einen Bogen vom 19. zum 21. Jahrhundert und beweist, wie wenig sich für die unteren Klassen der Gesellschaft verändert hat.
Neu ist diese Beobachtung natürlich nicht, denn solche von der Realität inspirierte und damit authentische und aufrüttelnde, gesellschaftskritische Filme gibt es in Frankreich in schöner Regelmäßigkeit. Mich hat Lys Film stark an Bertrand Taverniers Auf offener Straße erinnert, aber auch an Matthieu Kassovitz’ Hass, die beide aus den Neunzigerjahren stammen.
Die Wütenden – Les Misérables
Der Polizist Stéphane (Damien Bonnard) hat sich zu einer Einheit in dem Pariser Vorort Montfermeil versetzen lassen, um seinem bei seiner Ex-Frau lebenden Sohn näher zu sein. Den ersten Arbeitstag verbringt er gemeinsam mit dem schnell aufbrausenden Chris (Alexis Manenti) und seinem eher besonnenen Partner Gwada (Djebril Zonga), die ihn über die einflussreichsten Banden und ihre Konflikte in dem von Einwanderern dominierten Viertel unterrichten. Als ein Löwenbaby aus einem Zirkus gestohlen wird und die Polizisten den Täter, den halbwüchsigen Issa (Issa Perica), festnehmen, geraten sie mit einer Jugendgang aneinander. In dem entstehenden Chaos wird Issa gefährlich verletzt …
Der Film hat zahlreiche Auszeichnungen erhalten, unter anderem den César als bester Film, den Preis der Jury in Cannes und eine Oscarnominierung. Das ist verständlich, schließlich ist es ein Film über prekäre soziale Verhältnisse, der aufklären und mahnen will, er wurde als „wütende Parabel“ beschrieben, und fällt definitiv in die Kategorie „wichtig“. Kann man also etwas gegen diesen Film haben?
Es gibt vieles, was man an Die Wütenden loben kann, der semi-dokumentarische Stil, der einem den Alltag im Banlieue nahebringt, die schauspielerischen Leistungen, die durch die Bank gut sind, oder das Ende, das spannend und eindringlich inszeniert ist. Und damit sind wir schon bei den Problemen: Nur das Ende ist spannend. Die Geschichte beginnt erst, als der Filme bereits fast zur Hälfte vorbei ist. Bis dahin lernt man die Polizisten kennen, erfährt von den Muslimbrüdern und dem selbsternannten Bürgermeister des Viertels, der auch nur ein Gangster ist, von ehemaligen Straftätern, die sich sozial engagieren und anderen Fraktionen. In Montfermeil geht es, wie in anderen Gemeinden auch, in erster Linie um Macht und Einfluss, um die, die beides haben, und die vielen anderen, die nichts haben.
Die eigentliche Geschichte um das gestohlene Löwenbaby ist schnell erzählt, das Schicksal des Diebs braucht etwas länger. Ly schildert eindringlich die Kriminalisierung eines Jungen aufgrund traumatischer Erfahrungen in einem brutalen Umfeld, in dem die Polizei als Feind auftritt und sich verhält wie ein Unterdrücker oder Besatzer. Dramaturgisch funktioniert das, auch wenn Ly ständig abschweift und viele unnötige Umwege beschreitet.
Der semi-dokumentarische Charakter erschwert aber auch den Zugang zu den Figuren. Man findet keinen Halt, weder bei den Polizisten noch bei den Gangstern oder Jugendbanden. Hinzu kommt, dass man all das, wie eingangs erwähnt, bereits zigfach gesehen hat, was die Figuren letzten Endes austauschbar macht. Die Erkenntnis, die vielleicht deprimierender als die eigentliche Geschichte ist, ist die, dass sich nichts ändert. Selbst Filme wie dieser laufen am Ende ins Leere, werden prämiert, bewundert und als künstlerisches Werk gefeiert, haben aber keine Auswirkungen auf die Realität.
Alles in allem ein gutgemeinter Film, dessen erste Hälfte viel zu lang und langatmig geraten ist und der erst in den letzten zwanzig Minuten richtig gut wird, aber nie die emotionale Wucht und Eindringlichkeit seines Vorbilds von Victor Hugo erreicht.
Note: 3-
Der Film ist bei Prime Video abrufbar.