Musicalverfilmungen sind wieder groß in Mode, nicht so groß wie in den Fünfziger- und Sechzigerjahren, als das Genre seine Blütezeit erlebte, aber mit West Side Story, In the Heights und Dear Evan Hanson kamen gleich drei Produktionen in jüngster Zeit in unsere Kinos. Hinzu kommen noch Animationsfilme mit starkem Musikanteil wie Sing oder Encanto. Kürzlich habe ich sogar auf Sky eine Musical-Serie gesehen: Zoey’s Extraordinary Playlist (großartige erste Staffel, der Rest ist leider nur solala).
Als der Trailer zu In the Heights herauskam, war Mark G. völlig begeistert. Ich … eher weniger. Auch nach der zweiten oder dritten Sichtung wollte der Funke bei mir einfach nicht überspringen. Trotzdem habe ich ihn mir schließlich auf Sky angesehen, als ich in der richtigen Stimmung dafür war.
In the Heights
Washington Heights ist ein New Yorker Stadtviertel, das stark von lateinamerikanischen Einwanderern geprägt ist. Doch auch hier schreitet die Gentrifizierung voran, der örtliche Schönheitssalon schließt bereits seine Pforten, und Usnavi (Anthony Ramos), der die Bodega seiner verstorbenen Eltern betreibt, träumt davon, wieder in deren Heimat, die Dominikanische Republik, zurückzukehren, um dort ein Geschäft zu eröffnen. Ihn halten vor allem die Menschen zurück: Abuela Claudia (Olga Merediz), die zwar nicht seine leibliche Großmutter ist, ihn aber aufgezogen hat, oder Vanessa (Melissa Berrera), in die er sich verliebt hat. Usnavis Jugendfreundin Nina (Leslie Grace) hat dagegen bereits den Absprung geschafft und studiert an der Westküste, will aber wieder in die Heimat zurück.
Als Lin-Manuel Miranda, der neue Superstar unter den Komponisten, während seines Studiums begann, die Musik für In the Heights zu schreiben, gab es relativ wenige lateinamerikanische Einflüsse auf die aktuelle US-Popkultur. Das hat sich nun, über zwanzig Jahre später, zum Glück geändert. Filme wie In the Heights mit rein lateinamerikanischer Besetzung sind inzwischen nichts Ungewöhnliches mehr, und inszeniert hat Jon M. Chu, der zuvor mit Crazy Rich bereits eine rein asiatische Cast zu einem Erfolg geführt und mit den Step up-Filmen Musicalerfahrung gesammelt hat.
Die Verfilmung des erfolgreichen Broadway-Musicals ist in erster Linie eine hymnische Liebeserklärung an die lateinamerikanische (Musik-)Kultur und Lebensweise, schildert aber auch die Probleme der Einwanderer in den USA, wo sie mit Rassismus zu kämpfen haben, sich nach ihrer alten Heimat zurücksehnen und entsprechend mit ihrer Identität ringen. Hinzu kommen gesellschaftliche und ökonomische Veränderungen, durch die Strukturen aufgebrochen und Lebenswelten bedroht werden.
Auch Spielbergs West Side Story hat diese Themen behandelt, allerdings auf eine wesentlich radikalere Art und Weise. Die drohende Umwandlung des Viertels war bei ihm erschreckend real, die Handlung direkt im Trümmerfeld des urbanen Wandels angesiedelt, während sie bei In the Heights nur indirekt wahrnehmbar ist. Auch der Rassismus war in dem einen Film wesentlicher Teil der Erzählung, im anderen wird er nur in Erzählungen wiedergegeben. Was Spielberg mit dramatischer Wucht und Raffinesse inszeniert, kommt bei In the Heights eher spielerisch und fluffig-leicht daher. Das eine Musical ist großes Drama, das andere ein heiteres Singspiel.
Das ist nicht abfällig gemeint. Es gehört schon viel Geschick dazu, unbändige Lebensfreude adäquat auf die große Leinwand zu bannen, Musik und Tanz mit betörender Leichtigkeit einzufangen und den unterschiedlichen Menschen eine Stimme zu geben. Musikalisch ist das Resultat faszinierend, Elemente aus Hip-Hop und modernem R & B werden ebenso integriert wie die unterschiedlichen Instrumente Lateinamerikas, die jeweils die verschiedenen Nationalitäten repräsentieren.
Dramaturgisch steuert die Handlung auf ein großes Ereignis zu, einen mehrtägigen Blackout im Hochsommer, einer Jahreszeit, die in New York auch sonst unangenehmer als anderswo zu sein scheint. Das Problem ist nur, dass dieses Ereignis eigentlich keine Rolle spielt. Genauso wenig wie alles, was im Film passiert. Alle Figuren wissen nicht so recht, was sie eigentlich wollen. Usnavi sehnt sich nach der alten Heimat und einem Neuanfang, will aber eigentlich nicht fort. Vanessa will Modedesignerin werden, findet aber keine Wohnung in Manhattan, ohne dass man versteht, warum sie für ihre Karriere überhaupt umziehen muss. Nina will studieren, aber nicht, dass ihr Vater (Jimmy Smits) dafür sein Geschäft verkauft. Keiner dieser Konflikte kommt zum Tragen, keiner wird spannend oder wenigstens interessant erzählt. Im Grunde stehen sich die Figuren immer nur selbst im Weg, und das ist auf Dauer einfach nur stinklangweilig.
Berührend ist lediglich die Geschichte von Claudia, die über ihre hart arbeitende Mutter nachdenkt, über ihr Leben in den USA, das sich seinem Ende zuneigt. Die wenigen Szenen mit ihr sind eindeutig die besten des Films. Der Rest ist leider nur fröhliches Singen und Tanzen, oft hübsch anzusehen, aber weder eingängig noch emotional. Es fehlt eine Bindung an die Figuren, deren Schicksal einem völlig egal ist. Sogar die Liebespaare, die sich im Verlauf der ausufernden, viel zu langen und langatmigen Handlung finden, sind uninteressant geschildert.
Für hartgesottene Musicalfans ist In the Heights vielleicht ein Must-See, ein Highlight der letzten Jahre. Allen anderen könnten die nicht enden wollenden, sich ständig wiederholenden Rhythmen mit der Zeit auf die Nerven gehen, hinzu kommen eine praktisch nicht-existente Handlung und langweilige Figuren. West Side Story verlässt man berührt und mit zwei oder drei Ohrwürmern im Kopf, bei In the Heights ist man nur erschöpft und froh, dass es endlich vorbei ist.
Note: 4