Eines meiner absoluten Lieblingsbücher ist Lichtjahre von James Salter, in dem der Großmeister der amerikanischen Literatur eine Ehe porträtiert, die zuerst vollkommen erscheint, am Ende aber doch scheitert. Es ist auch ein Gesellschaftsroman über die USA der Fünfziger- und Sechzigerjahre, brillant beobachtet und stilistisch perfekt.
Wer wir sind und wer wir waren hat mich ein wenig daran erinnert, und da er mit drei Schauspielern besetzt ist, die ich sehr gerne sehe, habe ich mich darauf gefreut, ihn bei Sky sehen zu können.
Wer wir sind und wer wir waren
Seit 29 Jahren sind Grace (Annette Benning) und Edward (Bill Nighy) verheiratet, als er ihr eines Tages eröffnet, dass er sich in eine andere Frau verliebt hat und sie verlassen wird. Für Grace, die ihren Mann immer noch liebt, bricht eine Welt zusammen. Ihr gemeinsamer Sohn Jamie (Josh O’Connor) versucht, sie zu trösten, doch er befindet sich gerade in einer existenziellen Krise und weiß nicht, was er seiner Mutter raten soll.
Der Aufhänger lässt viele Spielarten der Geschichte zu, es könnte ein bissiger Rosenkrieg werden, ein Seelenstriptease oder eine melancholische Aufarbeitung der Vergangenheit. Autor und Regisseur William Nicholson nimmt ein bisschen von allem und konzentriert sich besonders auf Grace und wie sie mit dem Verlust der Liebe umgeht.
Nicholson beschreibt sehr sorgfältig das Leben des Ehepaars, das sich ein bisschen entfremdet hat, weil die Partner charakterlich zu verschieden sind und sich zu wenig für die Steckenpferde des jeweils anderen interessieren. Grace liebt Poesie und arbeitet an einer Anthologie mit Gedichten für jede Lebenslage. Edward ist Lehrer und schreibt Wikipedia-Einträge über Napoleons Feldzug in Russland. Sie ist überschäumend, exaltiert, bestimmend und fordernd, er ist introvertiert, schüchtern, wortkarg und verzagt. Nach fast dreißig Jahren hat Edward das Gefühl, dass seine Frau ihn nicht richtig kennt, er kommt sich wie ein Betrüger vor, weil sie sich in einen Mann verliebt hat, der er im Grunde nicht ist, und was immer er auch versucht, um sie glücklich zu machen, es ist nie genug.
Für den nüchternen Edward ist die Trennung der logische Schluss, vor allem nachdem er sich in eine andere Frau verliebt hat, die weniger fordernd und anstrengend ist. Doch Grace lässt ihn nicht los, wie ein Hund, der sich in einen Knochen verbissen hat, will sie ihre Liebe nicht gehen lassen. Mit seinem Tod wäre sie vermutlich besser zurecht gekommen als mit einer Trennung, und sie durchlebt die verschiedenen Phasen der Trauer, um am Ende wieder Hoffnung zu schöpfen. Das ist schön erzählt.
Grace ist aber auch eine anstrengende Figur, die es einem schwer macht, sie zu mögen. Annette Benning verkörpert sie mit Verve, sie lässt Grace toben und den Küchentisch umwerfen, sie kauft sich einen Hund und benennt ihn nach ihrem Ex-Mann, sie torpediert sogar die Scheidung, obwohl Edward ihr mehr geben will, als ihr vom Gesetz her zusteht. Für sie ist die Trennung wie ein Verrat.
Jamie steht zwischen den beiden, ein Verlorener in der Welt, der vom Temperament her seinem unterkühlten, verschlossenen Vater ähnelt, aber sehr an seiner Mutter hängt. Er nennt sie seine Kundschafterin im Leben. Nebenbei ist es, erstaunlich genug, auch eine Geschichte über den Glauben. Grace ist religiös und schöpft ihre Kraft aus ihrem Glauben, obwohl ihr viel abverlangt wird. Jamie ist Atheist und Nihilist, der keinerlei Sinn im Leben sieht und darunter leidet, sich nicht öffnen zu können. Josh O’Connor, der seine Figuren oft sehr lebensbejahend und lebendig anlegt, quillt hier die Traurigkeit aus jeder Pore, so dass man ihm in jeder Szene eine Packung Antidepressiva in die Hand drücken möchte. Eine so im wahrsten Sinne des Wortes erbärmliche Figur hat man selten gesehen. In gewisser Weise gilt dies ebenfalls für Grace, die jedoch auf das Erbarmen Gottes vertraut und am Ende findet, was auch auf musikalischer Ebene gespiegelt wird.
Zum Überbau der Geschichte gehört vor allem die Poesie. Grace stellt ihre Anthologie zusammen im Wissen, dass alles, was wir fühlen und erleben, bereits von Menschen vor uns gefühlt und erlebt worden ist, die über ihre Erfahrungen geschrieben haben. Für jede Lebenslage gibt es das passende Gedicht, und so hilft ihr die Poesie, die titelgebende Kluft in der Hoffnung auf ein gutes Ende zu überwinden. Auch das ist schön erzählt.
Insgesamt ein eher stiller Film, mit sorgfältig beobachteten Figuren, denen man gerne noch näher kommen würde, mit punktgenauen Dialogen und vielen schönen Szenen. Und dennoch hat man das Gefühl, das hätte man alles besser erzählen können.
Note: 3