West Side Story

Weihnachten wird ja gerne mal gesungen, also nicht von mir, das würde ich garantiert niemandem antun, aber ganz generell. Folglich ist die Adventszeit wunderbar geeignet, um ein Musical zu starten. Was sich unter den gegenwärtigen Umständen leider als sehr viel schwieriger herausgestellt hat, als geplant. Selbst mit einem Regisseur wie Steven Spielberg schaffte es West Side Story am Startwochenende nicht, die Menschen ins Kino zu locken. Bis auf uns …

West Side Story

1958 ist die Upper West Side im Wandel: Alte Wohnblöcke werden abgerissen, um Prestigebauten wie das Lincoln Center zu errichten, und die alteingesessenen Bewohner müssen weichen. Zwischen den Trümmern ihrer Vergangenheit hausen die letzten Mieter und halten immer noch an ihren Rivalitäten fest. Die Spannungen zwischen den ethnischen Gruppen sind groß, vor allem zwischen den etablierten weißen Einwanderern der dritten oder vierten Generation und den neu Zugezogenen aus Puerto Rico, die sich hier ein neues Leben aufbauen wollen.

Tony (Ansel Elgort) ist ein junger Mann polnischer Herkunft, der ein Jahr wegen schwerer Körperverletzung im Gefängnis saß und nun im Laden von Valentina (Rita Moreno) versucht, sein Leben wieder in den Griff zu kriegen. Mit seinem besten Freund Riff (Mike Faist) hat er einst die Jets gegründet, eine Straßengang, die sich in einem Dauerstreit mit den puerto-ricanischen Sharks befindet. Deren Anführer ist der Boxer Bernardo (David Alvarez). Als Riff vorschlägt, die Revierstreitigkeiten mit einem einzigen Kampf zu klären, ist er einverstanden. Doch dann verliebt sich Tony ausgerechnet in Bernardos Schwester Maria (Rachel Zegler) …

Die Idee zu dem Musical stammt aus dem Jahr 1949 und sollte, basierend auf Shakespeares Romeo und Julia, von den Konflikten zwischen christlichen Amerikanern und jüdischen Einwanderern erzählen: Der Titel lautete: East Side Story. Doch Komponist Leonard Bernstein musste das Projekt aus Termingründen immer wieder verschieben, und als er es Jahre später wieder aufgriff, hatte er eine andere Idee.

Ein Glück, kann man sagen, denn musikalisch wäre mit Sicherheit etwas völlig Anderes dabei herausgekommen. Gerade die Kombination verschiedener Musikstile, von Jazz bis zu lateinamerikanischen Rhythmen macht West Side Story aus und trägt auch auf dieser Ebene viel zur Charakterisierung der rivalisierenden Banden dar. Kein Wunder, dass das Musical ein großer Hit wurde, noch getoppt vom Erfolg des Films, der zehn Oscars einheimste. Die beliebtesten Songs haben es zu einer gewissen Bekanntheit geschafft, so dass man, selbst wenn man so wie ich weder das Musical noch die Verfilmung von 1961 gesehen hat, zumindest ihre Refrains mitsingen kann.

Mit Musicalverfilmungen habe ich so meine Schwierigkeiten. Ich mag Musicals, habe sie früher sogar geliebt und etliche auf der Bühne gesehen, aber die Unmittelbarkeit und die fiebrige Energie, die sich bei einer Aufführung auf den Zuschauer überträgt, verliert sich über den Umweg der großen Leinwand. Deshalb hatte ich anfangs Mühe, mit Spielbergs Adaption warm zu werden.

Dabei gibt es vieles, was man von der ersten Sekunden an bewundern kann: Die aufregende Kameraarbeit von Janusz Kamiński, die sowohl bildgewaltige Tableaus als auch dynamische Bewegungen erschafft. Überhaupt ist der Look eine Wucht und kombiniert den weichen Farbton der alten Technicolorbilder mit der brillanten Schärfe hochauflösender Digitalbilder. Die weitgehend unbekannten Darsteller sind vollkommen authentisch und überzeugend. Rachel Zegler überzeugt mit einer wunderbaren Stimme, während Ansel Elgort wie gewohnt etwas blass bleibt, seine Sache insgesamt aber gut macht. Eine Wucht ist Ariana deBose, die als Anita möglicherweise ebenso einen Oscar erhalten wird wie seinerzeit Rita Moreno für diese Rolle, die mit ihrem Part als Valentina so etwas wie das trauernde Herz der Geschichte darstellt. Dass die Musik großartig ist, muss nicht extra betont werden, ihre Einbettung in die Handlung sowie die Inszenierung von Gesang und Tanz sind jedoch perfekt. Ganz großes Kino von Steven Spielberg, der damit unter Beweis stellt, dass ein Meister einfach jedes Genre beherrscht.

Zu Musicals gehört aber auch eine gewisse Überhöhung der Wirklichkeit und damit eine Künstlichkeit, die auf der Bühne akzeptabel, auf der Leinwand aber etwas unglaubwürdig wirkt. Dass Maria und Tony sich auf den ersten Blick unsterblich ineinander verlieben und sich bereits nach drei Sekunden anschmachten, gehört dazu. Oder dass die Figuren ihre alltäglichen Verrichtungen kurz unterbrechen, um ein Liedchen zu trällern. Muss man mögen, mir fällt es leider etwas schwer.

Auch die Frage, ob es überhaupt eine Neuverfilmung eines Klassikers braucht, stellt sich unwillkürlich. Streng genommen nicht, andererseits schadet es nicht, auch einen Klassiker nach Jahrzehnten zu entstauben, um zu sehen, ob die Geschichte uns Heutigen nicht noch etwas zu erzählen hat. Spielberg und seinem Autor Tony Kushner gelingt das auf hervorragende Weise, indem sie die städtebaulichen Umwandlungen der Fünfzigerjahre mit der heutigen Gentrifizierung gleichsetzen. Wobei der Vergleich etwas hinkt, denn San Juan Hill galt damals als Slum und wurde nicht nur abgerissen, um ein Kunstzentrum für die soziale Elite zu errichten, sondern auch moderne Sozialwohnungen. Das hat mit der Gentrifizierung von heute nur bedingt etwas zu tun. Die Kritik des Films richtet sich jedoch an die rivalisierenden Banden, die sich bis aufs Blut bekämpfen, obwohl sie mehr verbindet als voneinander trennt. Und diese Botschaft lässt sich wunderbar auf heutige Minderheiten übertragen. Darüber hinaus haben diese uralten Fehden, die in den Ruinen einer sterbenden Welt ausgetragen werden, einen starken symbolischen Charakter. Auch wenn es das Set-Design mit der Romantisierung übertreibt.

Am stärksten ist der Film in seinem letzten Drittel, in dem die Tragödie unerbittlich ihren Lauf nimmt. Niemand kann, auch wenn er es wie Tony versucht, aus seiner ihm zugeteilten Rolle ausbrechen, und am Ende muss ein hoher Preis dafür bezahlt werden. Das ist tragisch und zutiefst bewegend.

Vor allem aber: West Side Story ist ein Film, den man auf der großen Leinwand gesehen haben MUSS. Also, Leute, geht ins Kino. Es lohnt sich.

Note: 2

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Über Pi Jay

Ein Mann des geschriebenen Wortes, der mit fünfzehn Jahren unbedingt eines werden wollte: Romanautor. Statt dessen arbeitete er einige Zeit bei einer Tageszeitung, bekam eine wöchentliche Serie - und suchte sich nach zwei Jahren einen neuen Job. Nach Umwegen in einem Kaltwalzwerk und dem Öffentlichen Dienst bewarb er sich erfolgreich an der Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg. Er drehte selbst einige Kurzfilme und schrieb die Bücher für ein halbes Dutzend weitere. Inzwischen arbeitet er als Drehbuchautor, Lektor und Dozent für Drehbuch und Dramaturgie - und hat bislang fünf Romane veröffentlicht.