Ich habe schon häufiger geschrieben, dass ich mir bestimmte Filme auf meiner Watchlist erst dann anschaue, wenn sie kurz davor sind, bei Prime Video zu verschwinden, und Skin gehört ebenfalls in diese Kategorie. Der Trailer hat mir damals gut gefallen, aber das Thema Neo-Nazis in den USA ist eines, mit dem man sich nicht gerne auseinandersetzt. Das reale Leben ist schon problematisch genug.
Andererseits hilft es auch nicht, den Kopf vor dem zu verschließen, was um uns herum geschieht. Die USA mögen vielleicht geografisch weit weg sein, viele gesellschaftliche Entwicklungen jedoch, die sich dort gerade vollziehen, erleben wir hier bei uns ebenfalls.
Skin
Bryon (Jamie Bell) ist ein Neo-Nazi, der zur Viking-Bewegung in Ohio gehört, und einer der meist gesuchten Suprematisten der USA. Zusammen mit seinem Ziehvater Fred (Bill Camp) leitet er die Organisation und ist für etliche Gewaltakte verantwortlich. Die Seele der Bewegung ist aber Freds Frau Shareen (Vera Farmiga), die sich mit mütterlicher Wärme um die jungen Rekruten kümmert, die sie als ihre Kinder annimmt.
Als Bryon eines Tages Julie (Danielle Macdonald) kennenlernt, die alleinerziehende Mutter dreier Töchter, verliebt er sich in die junge Frau. Julie hat der Szene schon vor Jahren den Rücken gekehrt, und durch sie beginnt Bryon langsam, über seine Taten nachzudenken und an seinen Überzeugungen zu zweifeln. Eines Tages entschließt er sich, der Bewegung den Rücken zu kehren, aber seine Leute wollen ihn nicht gehen lassen …
Veränderungen sind schwer, vor allem charakterliche Veränderungen oder die Aufgabe von lebenslangen Überzeugungen. Auch Bryon wurde nicht als Rechtsradikaler geboren, sondern von seinem Umfeld dazu gemacht. In einer Szene sieht man, wie Fred einen neuen Rekruten anwirbt, einen weißen Teenager, der aus einem problematischen Zuhause weggelaufen ist und sich der Bewegung nur anschließt, weil er Hunger hat und einen Platz zum Schlafen sucht. Er lässt sich aber auch vom Gemeinschaftsgefühl verführen, von den Erzählungen über die weiße Herrenrasse und von dem martialischen Aussehen der Mitglieder. Obwohl es eine strenge Hierarchie gibt und Gewalt an der Tagesordnung ist, findet er hier seinen Platz. In gewisser Weise ist er wie Bryon in seinem Alter, und die Geschichte schildert nebenbei auch sein Schicksal, das völlig anders verläuft als das der Hauptfigur.
Man mag Bryon anfangs nicht besonders, denn man lernt ihn als gewalttätigen Schläger kennen, der einen jungen Schwarzen bei einer Demonstration halb totprügelt und ihm SS-Runen ins Gesicht schneidet. Auch Bryons Gesicht ist mit den Symbolen und Insignien der Bewegung gezeichnet, und als gelernte Tätowierer hat er einige davon selbst entworfen oder gestochen. Die Tätowierungen, die Bryon sich später entfernen lässt, ein Prozess, dessen Bilder den Film gliedern wie Kapitelüberschriften, stehen nicht nur für die langwierige Gedankenarbeit und die Häutung der Hauptfigur, sie stehen auch für eine Identität, die nur schwer abzulegen ist, weil sie einem buchstäblich unter die Haut kriecht.
Der israelische Regisseur und Drehbuchautor Guy Nattiv, Enkel eines Holocaustüberlebenden, ist tief eingetaucht in die Welt des realen Bryon Widner und hat einen Film geschaffen, der schockiert, aber auch beklommen macht. Manche Szenen, in denen die Gewalt der Neo-Nazis gezeigt werden, sind nur schwer zu ertragen. Herzstück der Geschichte ist jedoch Bryon, dessen Ringen um seine Identität Jamie Bell großartig darstellt. Mitunter wirkt es wie ein Exorzismus, wenn die Dämonen, die Bryon bekämpft, immer wieder durchbrechen.
Der Film ist leider nicht perfekt, er hätte ruhig noch tiefer in die Viking-Bewegung eintauchen und das Verführerische zeigen können, denn vieles wirkt sehr grobschlächtig oder verallgemeinert erzählt. Die Neo-Nazis wirken allesamt böse und gewalttätig und bedrohlich, dabei wäre das Grauen vermutlich noch größer gewesen, hätte man auch ihre menschlichere Seite zu sehen bekommen.
Auch der afroamerikanische Aktivist Daryle Jenkins (Mike Colter), der Bryons Ausstieg begleitet, hätte es verdient, differenzierter dargestellt zu werden und nicht eine bloße Randfigur zu bleiben. Aber abgesehen von ein paar Längen und kleineren inszenatorischen Schwächen ist dies das Einzige, was man an Skin aussetzen kann.
Note: 2-