Bevor Luca Guadagnino mit Call Me by You Name berühmt wurde, hatte er bereits mit A Bigger Splash und I Am Love zwei renommierte Arthausfilme abgeliefert. Ersteren habe ich nie gesehen, weil ich seinerzeit das Drehbuch gelesen hatte und es mir nicht gefallen hat. Zweiteren habe ich kürzlich auf Prime Video angeschaut.
Der deutsche Titel lautet Ich bin die Liebe, bei Prime ist er aber unter seinem internationalen Titel I Am Love zu finden.
Ich bin die Liebe
Emma (Tilda Swinton) ist die russischstämmige Ehefrau des Mailänder Textilfabrikanten Tancredi Recchi (Pippo Delbono) und lebt ein sorgloses Leben im Luxus. Ihre drei Kinder sind bereits erwachsen. An Weihnachten verkündet der kranke Patriarch der Familie (Gabriele Ferzetti), dass er sich zur Ruhe setzen und die Firmenleitung seinem Sohn Tancredi und seinem ältesten Enkel Edoardo (Flavio Parenti) zu gleichen Teilen überlassen will. Edoardo ist aber vielmehr daran interessiert, zusammen mit seinem Freund Antonio (Edoardo Gabbriellini) ein Gourmetrestaurant in den Bergen zu eröffnen. Als Emma Monate später eine von Antonios Kreationen probiert, ist sie hingerissen und von dem Koch fasziniert, und bei einem Besuch in seinem entlegenen Refugium, das er zum Restaurant ausbauen will, beginnt sie mit ihm eine leidenschaftliche Affäre …
Wer hätte gedacht, dass Tilda Swinton Italienisch spricht? Britische Schauspieler, von denen man nicht unbedingt umfangreiche Fremdsprachenkenntnisse erwartet, überraschen einen immer wieder mit ihren polyglotten Talenten. Darüber hinaus ist sie wohl schon sehr lange mit Guadagnino befreundet, denn sie spielt sowohl in A Bigger Splash als auch in Suspiria eine der Hauptrollen, darüber hinaus haben die beiden I Am Love über sieben Jahre hinweg gemeinsam entwickelt.
Man spürt diese gemeinsame Leidenschaft für die Geschichte beim Anschauen sehr deutlich, sei es die Hingabe an das perfekte Bild des Regisseurs oder die der Schauspielerin an ihre Rolle – in diesem Film stimmt jedes Detail: Die Ausstattung ist exquisit und unterstreicht das Lebensgefühl der Mailänder High Society. Die Musik von John Adams, die zwar nicht eigens für den Film komponiert wurde, aber sehr gut passt, weil der Regisseur sie bereits beim Schreiben im Kopf hatte. Die Inszenierung ist von unaufgeregter Beiläufigkeit, die Kamera gleitet elegant durch die Tableaus, und die Bildsprache suggeriert eine gewisse Zeitlosigkeit, nimmt etwa Anleihen an die Filme der Sechziger- und Siebzigerjahren. So ist das Resultat auf mehreren Ebenen bemerkenswert.
Das größte Manko ist die Geschichte, die sehr lange braucht, um sich zu entfalten. Streng genommen vergeht exakt die Hälfte der Spielzeit, bevor die leidenschaftliche Beziehung zwischen Emma und dem viel jüngeren Antonio beginnt – mit einem Kuss in der Unschärfe, von dem so schnell weggeschnitten wird, dass man sich fragt, ob er sich tatsächlich ereignet hat oder nur eine Wunschvorstellung Emmas war. Wenn es um die Darstellung des Paars geht, schwankt Guadagnino zwischen pikanter Freizügigkeit, die irritierend nostalgisch ist, weil sie so gar nicht zur zeitgenössischen Bildsprache passt, und einer symbolhaften Überhöhung, die in ihrer Deutlichkeit leider etwas platt ist. Das gilt vor allem für das Schlussbild während des Abspanns.
In der ersten Hälfte rätselt man vor allem aber, in welche Richtung sich die Story entwickeln wird. Am ehesten ist es noch ein Familiendrama, das sich um die Nachfolge in einer Firma rankt, aber dafür spielen weder der Patriarch noch sein Sohn oder Enkel eine große Rolle. Eine Nebenhandlung erzählt eine versteckte Emanzipationsgeschichte: Enkelin Elisabetta (Alba Rohrwacher) studiert Kunst in London, widersetzt sich jedoch den Erwartungen ihres Großvaters und beginnt zudem eine lesbische Beziehung, von der sie nur ihrer Mutter erzählt, die sie darin unterstützt. Erst mit diesem Kuss in der Mitte des Films beginnt die eigentliche Handlung, die vom Erwachen Emmas erzählt.
Der größte Pluspunkt des Films ist die Regie von Guadagnino, der mit solcher Leichtigkeit vom Leben dieser Familie erzählt, dass man das Fehlen einer dramatischen Handlung zu Beginn gar nicht vermisst. Man könnte der Kamera stundenlang durch die riesige Villa folgen, sich an den perfekten Bildern berauschen, dem Geplauder der Familienmitglieder lauschen oder ihnen beim Essen zusehen. Ganz beiläufig erfährt man von Elisabettas Enttäuschung, die sich mehr Rückhalt von ihrer Familie erhofft hat, gleichzeitig aber auch ins ferne London geflohen ist, wahrscheinlich um der patriarchalen Strenge zu entkommen. Ihre Brüder bekommen deutlich weniger Konturen, der jüngere Sohn bleibt sogar so blass, dass man ihn vollkommen vergisst, und auch Edoardo ist nicht so interessant, dass man an seinem Schicksal Anteil nimmt – was auch das Ende des Films etwas schwächt.
Dass Emma im Mittelpunkt der Geschichte steht, wird somit erst spät klar, denn die Figur entzieht sich häufig freiwillig den familiären Aktivitäten: Bei den Mahlzeiten ist sie still, am Abend geht sie früh zu Bett. Emma hat sich so stark ihrem Leben in Mailand angepasst, dass sie selbst praktisch verschwunden ist. Wenn sie Antonio erzählt, wie sehr sie sich seit ihrer Heirat verändert hat, dass ihr Mann sie aus ihrem Land, ihrer Familie, ihrem Sprachraum herausgeholt und ihr sogar einen neuen Vornamen gegeben hat, wird auch hier der starke, unterdrückende Einfluss der Männer deutlich. Tilda Swinton legt ihre Figur ein wenig wie eine Schlafwandlerin an, deren Erwachen am Ende umso heftiger ist.
Ihre Affäre mit Antonio beginnt spektakulär ungewöhnlich: Wenn sie zum ersten Mal sein Essen kostet, erstrahlt sie in einem geradezu überirdischen Licht und ist von Glück und Zufriedenheit, sogar Leidenschaft erfüllt. Dass Guadignino diesen Moment kitschig-überhöht inszeniert, verwundert auf den ersten Blick, doch die vielen Close-ups und schnellen Schnitte, die er einsetzt, korrespondieren später perfekt mit den Liebesszenen zwischen Emma und Antonio, die darlegen, wie eng Essen und Lieben verbunden sind. In beiden Fällen geht es um Genuss und Sinnlichkeit, darüber hinaus aber auch um Identität. Nur bei Antonio scheint Emma ganz sie selbst zu sein und wieder in Kontakt zu ihren lange unterdrückten und nur in ihren Träumen wiederkehrenden Erinnerungen an ihre russische Kindheit zu stehen. Gleichzeitig wird ein Bogen zurück zur Kulinarik geschlagen, denn Emma verrät Antonio ein altes Familienrezept für Edoardos Lieblingssuppe, das allen dreien schließlich zum Verhängnis wird.
Gegen Ende erfährt der Film dann doch noch einen dramatischen Höhepunkt, der ebenfalls so beiläufig erzählt wird, dass man erst begreift, was geschehen ist, wenn alles bereits vorbei ist. Grundsätzlich ist das gut erzählt, wirkt aber auch etwas abgehackt und gedrängt, so als hätte jemand dem Regisseur gesagt, er solle endlich mal zum Punkt kommen. Die letzten Szenen gehören aber ganz Emma und ihrer Befreiung aus dem Luxusleben wie aus einem Kokon, und das ist dann großes Kino.
Note: 2-