Der geheime Garten

Die britisch-amerikanische Schriftstellerin Frances Hodgson-Burnett hat im 19. und frühen 20. Jahrhundert eine Reihe erfolgreicher Kinderbücher geschrieben, von denen drei zu den absoluten Klassikern des Genres gehören: Der kleine Lord, Sara, die kleine Prinzessin und Der geheime Garten. Sie alle wurden bereits zigfach verfilmt und werden in nahezu regelmäßigen Abständen immer wieder neu adaptiert.

Der geheime Garten stammt aus dem Jahr 1911 und wurde – meiner Meinung nach – am gelungensten 1993 von Agnieszka Holland umgesetzt, aber als nun eine neue Verfilmung in die Kinos kam, war ich neugierig. Leider hat Corona mir einen Strich durch die Rechnung gemacht, seit einiger Zeit ist der Film jedoch auf Prime Video zu sehen …

Der geheime Garten

Mary (Dixie Egerickx) wächst behütet und umsorgt in Indien auf. Als jedoch 1947 die Kolonialherrschaft endet und das Land im Chaos versinkt, stirbt zuerst ihre Mutter und kurz darauf auch ihr Vater an der Cholera. Das Mädchen kommt nach England zu seinem Onkel Lord Archibald Craven (Colin Firth), der auf einem düsteren Herrensitz lebt. Mary mag weder den kalten und düsteren Ort noch die Haushälterin Mrs. Medlock (Julie Walters). Dafür freundet sie sich heimlich mit ihrem Cousin Colin (Edan Hayhurst) an, der Zeit seines Lebens krank ans Bett gefesselt war und genauso verwöhnt ist wie Mary. Als sie auf einem Ausflug in die Umgebung des Hauses durch einen herrenlosen Hund auf einen geheimen Garten stößt, ahnt sie nicht, dass diese Entdeckung das Leben ihrer Familie für immer verändern wird …

Manche Historiker behaupten, dass sich die Kindheit, wie wir sie heute kennen, erst im vorletzten Jahrhundert entwickelt hat. Natürlich hat es schon immer Kinder gegeben, nur wurden sie meist wie kleine Erwachsene behandelt, entsprechend gekleidet – und zur Arbeit herangezogen. Noch 1900 waren 18 Prozent der Arbeiter in den USA jünger als sechzehn Jahre. Im 19. Jahrhundert kristallisierte sich aber auch langsam die Erkenntnis heraus, dass diese prägende Phase des Lebens besonders wichtig und entsprechend schützenswert sei. Kinderarbeit wurde erstmals in den 1830er Jahren eingeschränkt, die ersten Kindergärten entstanden und schließlich wurden auch Romane speziell für diese (eher bürgerliche) Klientel geschrieben. Wie eben Der geheime Garten.

Als gebürtige Britin geht Frances Hodgson-Burnett in ihren Büchern besonders hart mit der Gesellschaft im Vereinigten Königreich ins Gericht, insbesondere mit der Oberschicht, die sich kaum für ihren Nachwuchs interessiert und ihn in die Obhut von Nannys und Gouvernanten gibt, bevor er ins Internat geschickt wird. Um die Kinder kümmerte man sich nur nebenbei zwischen Tee und Abendgesellschaft.

Auch Mary und Colin sind Produkte dieser distanzierten, lieblosen Erziehung. Beide wurden von den Angestellten nach Strich und Faden verwöhnt, sind launisch und herrisch, aber auch zutiefst einsam. Im Verlauf der Geschichte lernt Mary, duldsamer und freundlicher zu sein, und Colin überwindet sein Selbstmitleid und erkennt, dass er nicht so krank ist, wie er immer geglaubt hat.

Das große Thema der Geschichte ist jedoch die zersetzende Kraft der Trauer. Seit dem Tod seiner Frau ist Lord Craven depressiv und verbittert, er bringt es nicht einmal über sich, seinen kranken Sohn zu sehen oder ihn am Leben teilhaben zu lassen. Entsprechend inszeniert Regisseur Marc Munden den Landsitz wie ein düsteres Grab, ein Labyrinth langer Gänge und verfallener Räume. Doch das wahre Gefängnis ist die Trauer, die die Menschen dazu bringt, das Leben auszuschließen.

Wie auch in Der kleine Lord gelingt es den Kindern, den schwermütigen, lebensfeindlichen Erwachsenen zu helfen, sich mit ihrem Schicksal auszusöhnen und optimistischer in die Zukunft zu blicken. Der Garten, ohnehin ein Steckenpferd der Briten, symbolisiert hier das Leben, die Fülle und den ewigen Neuanfang, er steht aber auch für eine Verbindung mit der Vergangenheit und der Sehnsucht nach dem verlorenen Paradies.

Warum die neue Adaption ausgerechnet 1947 spielt, ist schwer auszumachen. Vielleicht weil mit der Unabhängigkeit Indiens auch endgültig das Ende des britischen Weltreichs eingeleitet wurde und dieser Aspekt gut mit den vielen privaten Verlusten korrespondiert.

Ansonsten orientiert sich dieser Film stark an der bekannten Vorlage und setzt sie vielleicht etwas zu brav und emotionslos um. Gerade in der ersten Hälfte schleichen sich auch einige Längen ein, und da die Figuren nicht übermäßig sympathisch sind, fällt es etwas schwer, am Ball zu bleiben. Doch später, wenn die Kinder langsam die Vergangenheit durchleuchten und mehr über ihre verstorbenen Mütter und ihre Leben erfahren, wenn sie verstehen, warum die Erwachsenen sich so rätselhaft verhalten, bekommt die Geschichte eine psychologische Tiefe, die einen als Zuschauer nachdenklich stimmt.

Nicht die beste Verfilmung, aber besser als ihr Ruf und ein schöner, ruhiger Film für einen nebeligen Herbstabend.

Note: 3-

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Über Pi Jay

Ein Mann des geschriebenen Wortes, der mit fünfzehn Jahren unbedingt eines werden wollte: Romanautor. Statt dessen arbeitete er einige Zeit bei einer Tageszeitung, bekam eine wöchentliche Serie - und suchte sich nach zwei Jahren einen neuen Job. Nach Umwegen in einem Kaltwalzwerk und dem Öffentlichen Dienst bewarb er sich erfolgreich an der Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg. Er drehte selbst einige Kurzfilme und schrieb die Bücher für ein halbes Dutzend weitere. Inzwischen arbeitet er als Drehbuchautor, Lektor und Dozent für Drehbuch und Dramaturgie - und hat bislang fünf Romane veröffentlicht.