Vom Marvel Cinematic Universe, kurz MCU, hat wahrscheinlich schon jeder einmal gehört, der sich ein bisschen mit Superheldenfilmen beschäftigt. Und vermutlich wissen die meisten auch, dass nicht nur die Kinofilme, sondern auch TV- und Web-Serien sowie Comicbücher dazugehören und es in verschiedene Phasen unterteilt ist. Aber welche Filme gehören zu den Phasen, wie unterscheiden sie sich und in welcher befinden wir uns gerade, ist eine Frage, die vermutlich nur die Nerds beantworten können.
Ich habe mich mal ein bisschen schlau gemacht und erfahren, dass Phase I von Iron Man bis Marvel‘s The Avengers dauerte, die ersten Helden vorstellte und beschrieb, wie es zur Gründung der Avengers kam. In der zweiten Phase, die mit Ant-Man abgeschlossen war, ging es um weitere Helden und neue Abenteuer der bereits bekannten Figuren, aber auch um die Entstehung der größten Krise, die in The First Avenger: Civil War, dem Beginn von Phase III, schließlich zur Trennung der Superheldentruppe führte. Bekanntlich hält man in der Not zusammen, weshalb dieser Abschnitt vom gemeinsamen Kampf gegen Thanos und die ersten Probleme in der Zeit nach dem teuer erkauften Sieg handelte. Die sogenannte Infinity-Saga war damit abgeschlossen.
Nun hat Phase IV begonnen, und wir sind alle gespannt, wie es weitergeht, welche neue Saga erzählt werden soll. Einen Hinweis darauf lieferte etwa die Serie Loki, in der mit Kang dem Eroberer ein potentieller Gegenspieler eingeführt wurde. Auch das Multiversum soll angeblich eine Rolle spielen. Doch zunächst wird, ganz klassisch, ein neuer Superheld eingeführt, der das Universum erweitert:
Shang-Chi and the Legends of the Ten Rings
Shaun (Simu Liu) lebt in San Francisco und verdient seinen Unterhalt als Einparker in einem Luxushotel. Zusammen mit seiner besten Freundin Katy (Awkwafina) hat er keinerlei Ehrgeiz, Karriere zu machen, und genießt sein Leben in vollen Zügen. Doch dann tauchen eines Tages Männer auf, die ihn töten wollen, und Shaun bekennt, dass er einst vor seinem Vater, dem mächtigen und über tausendjährigen Verbrecherboss Xu Wenwu (Tony Leung Chiu Wai) geflohen ist, weil er kein Dasein als Attentäter und Krimineller führen wollte. Und sein wahrer Name ist Shang-Chi …
Ursprünglich sollte dieser Marvel-Comic aus dem Jahr 1973 bereits in Phase I verfilmt werden, weshalb auch in Iron Man die Terrororganisation Ten Rings auftaucht, aber dann entschied man sich doch für die bekannteren Helden. Dennoch ist es faszinierend zu sehen, wie es immer mehr Querverweise innerhalb des Universums gibt, so dass tatsächlich der Eindruck entsteht, dass jeder Film Teil eines größeren Ganzen ist.
Origin-Storys handeln gewöhnlich davon, dass der Held seine neuen Kräfte erlangt und lernen muss, mit ihnen umzugehen. Diesmal ist es ein bisschen anders, denn Shang-Chi besitzt keine Superkräfte, sondern wurde sein ganzes Leben lang in Martial Arts unterrichtet. Doch sein Vater besitzt mit den titelgebenden zehn Ringen ein mysteriöses, uraltes Artefakt unbekannter Herkunft, das ihm übermenschliche Kräfte und Unsterblichkeit verleiht. Daher ist die alles beherrschende Frage: Wie kommt Shang-Chi in ihren Besitz?
Entsprechend ist der Kern des Films ein Vater-Sohn-Konflikt, der kombiniert wird mit der Suche des Vaters nach einem geheimnisvollen Dorf. Aus diesem stammt Shang-Chis Mutter, und sie gab dem Jungen und seiner Schwester einst zwei Amulette, mit denen sie dorthin finden können. Die erste Hälfte des Films dreht sich also um die Bemühungen Xu Wenwus, diesen magischen Schmuck in seine Hände zu bekommen. In diesem Zusammenhang kommt es zu einer dramatischen Kampfszene in einem Bus in San Francisco, die so rasant und spannend inszeniert ist, dass man die meiste Zeit über den Atem anhält.
Leider ist dies bereits der Höhepunkt des Films. In der zweiten Hälfte, die von Macau, wo Shang-Chis Schwester Xu Xialing (Meng’er Zahng) einen illegalen Fight Club betreibt, über das geheime Hauptquartier der zehn Ringe bis zum Dorf der Mutter führt, versuchen die Geschwister, ihren Vater davon abzuhalten, ein schreckliches Monster zu entfesseln, das die Welt vernichten könnte. Diese Story ist ziemlich mau, aber immerhin unterhaltsam inszeniert, und besticht vor allem durch die fantasievollen Elemente, die der chinesischen Mythologie entlehnt werden.
Kevin Feige hat bei der Ankündigung des Films versprochen, dass dieser Teil des Franchises ganz anders werden würde, und er hat Recht behalten. Würde mit Benedict Wong, der Dr. Stranges rechte Hand spielt, nicht ein bekanntes Gesicht aus dem Dunstkreis der Avengers auftauchen und in den Dialogen nicht einmal Bezug auf den Kampf gegen Thanos genommen, käme man nicht auf die Idee, dass der Film zum MCU gehört. Er erinnert mit seinen Fabelwesen und Drachen eher an ein Märchen à la Willow oder Snow White and the Huntsman.
Shang-Chi selbst ähnelt ein wenig Black Widow, ein ehemaliger Krimineller, der sich von seiner Verbrecherorganisation losgesagt hat, und der ganze Film wirkt, als wollte man der asiatischen Community einen eigenen Platz im MCU reservieren, so wie der afro-amerikanischen mit Black Panther (inklusive einem magischen Wakanda). Wie in Black Panther geht es auch hier um den Kampf um die Nachfolge des Anführers. Leider ist Xu Wenwu zwar ein faszinierender, aber auch sehr schwacher Gegner, der weder besonders böse noch klug wirkt, dafür aber erschreckend leicht manipulierbar. Auch Shang-Chi erscheint alles andere als charismatisch, und ob es ihm nun gelingt, sich gegenüber seinem Vater zu behaupten oder nicht, interessiert einen auch nicht wirklich.
Leider gelingt es den Autoren und Regisseur Destin Daniel Cretton nicht, diese Schwächen über originelle Nebenfiguren oder wenigstens einen spannenden Showdown auszugleichen. Awkwafina wirkt, als hätte sie sich in den falschen Film verirrt, und fungiert als klassischer Goofball, ähnlich wie Jacob Batalon in den Spider Man-Filmen. Man erwartet zwar gelegentlich eine romantische Verwicklung mit dem Helden, aber dafür ist das MCU vermutlich viel zu keusch.
Da Shang-Chi so blass und nichtssagend bleibt, stellt man sich unweigerlich die Frage, ob es in diesem Film überhaupt darum geht, eine neue Figur einzuführen. Vielleicht hat der Film nur das Ziel, die Zuschauer auf das multidimensionale Universum vorzubereiten, aus dem die zukünftigen Gefahren drohen. Dazu passt das Dorf, das an einer Art Schnittstelle zwischen den Welten liegt, und auch der Trailer zu Spider Man: No Way Home deutet in diese Richtung. Dann wäre vermutlich auch nicht so sehr Shang-Chi von Interesse, sondern seine zehn Ringe …
Alles in allem kann man sagen, dass der Film eine Menge Spaß macht, vor allem in der ersten Hälfte, die rasant, witzig und actionreich ist, während der Rest eher an ein durchschnittliches Märchen-Abenteuer erinnert.
Note: 3