Vergangene Woche waren wir endlich wieder im Kino. Durch die Corona-Einschränkungen, die Personalengpässe in den Lichtspielhäusern, durch die Vorstellungen ausfallen müssen, und einen vollen Terminkalender war es nicht einfach, aber drei Filme haben wir immerhin geschafft. Weitere Produktionen stehen noch auf der Watchlist, aber es wird eng, denn es starten ständig neue Filme, und die älteren verschwinden viel zu schnell. Das nennt man wohl Freizeitstress …
Der erste Film ist Promising Young Woman, der für fünf Oscars nominiert war und einen – für das beste Originaldrehbuch – bekommen hat. Um es gleich vorwegzusagen: Er ist toll, und wer ihn noch nicht gesehen und die Chance dazu hat, sollte sich beeilen, bevor er vollends aus den Kinos verschwindet. Um angemessen über den Film schreiben zu können, muss ich jedoch etwas spoilern.
Promising Young Woman
Cassie (Carey Mulligan) ist dreißig, lebt noch bei ihren Eltern und war bis vor einigen Jahren eine begabte Medizinstudentin. Doch dann wurde ihre beste Freundin Nina von einem Kommilitonen vergewaltigt, und Cassie hat das Studium abgebrochen, um sich um sie zu kümmern. Weil der Schuldige nie bestraft wurde, konfrontiert Cassie nun Woche für Woche auf eigene Faust Männer, die sich sexuell übergriffig verhalten, indem sie in einem Club die Betrunkene spielt und sich von den Männern mit nach Hause nehmen lässt. Als sie jedoch Ryan (Bo Burnham), einen alten Freund von der Uni wiedertrifft, fühlt sie sich unerwartet zu ihm hingezogen und stellt erstmals ihre Aktion in Frage. Doch Ryan war auch mit Ninas Vergewaltiger Al Monroe (Chris Lowell) befreundet und erzählt Cassie, dass dieser nun heiraten will. Cassie beschließt daher, sich endgültig an allen Beteiligten zu rächen, die damals dafür gesorgt haben, dass Al ungestraft davonkam.
Wäre Cassie ein Mann, würden wir hier sehr wahrscheinlich von einem ganz anderen Film reden, und im Prinzip gibt es mit dem Revenge-Actioner ein eignes Subgenre für wütende Männer, die Rache nehmen für ein Unrecht, das sie selbst oder ihre Liebsten erlitten haben. Natürlich gibt es auch Frauen, die blutige Rache nehmen, man denke nur an Filme wie Carrie oder Peppermint, aber in der Regel sind es Männer.
Der Unterschied liegt vor allem in der Tonalität. In einem klassischen Rache-Thriller erlebt man zu Beginn häufig, auf welche Art und Weise der Held bzw. die Heldin verletzt wurde und kann dann beobachten, wie er oder sie Gleiches mit Gleichem vergilt, wobei die Gewalt wie ein quasi himmlisches Strafgericht über die Übertäter hereinbricht, die in der Regel immer auch gewaltbereit sind. In Promising Young Woman gibt es nichts davon.
Lange Zeit erfährt man nicht, was Cassie zugestoßen ist und warum sie sich auf diese Mission begeben hat. Man wird nur Zeuge, wie sie Männer zur Rechenschaft zieht, die ihre Macht über eine vermeintlich betrunkene und wehrlose Frau ausnutzen, um sie sexuell zu bedrängen. Diese Männer sind keine brutalen Bösewichter, die bedenkenlos Leben auslöschen, sondern jämmerliche Gestalten. Und Cassie rächt sich nicht an ihnen, indem sie sie verletzt oder wegen versuchter Vergewaltigung oder sexueller Nötigung anzeigt, sondern sie konfrontiert sie mit ihrem Verhalten. Und obwohl die Männer sich empört zeigen und jede Schuld von sich weisen, sieht man jedem einzelnen an, dass er genau weiß, wie widerlich er sich verhalten hat. Cassie beschämt sie zutiefst und zerstört damit ihr Selbstbildnis, auch wenn sie damit vermutlich kaum ein Umdenken erreicht, sondern eher noch die Misogynie dieser Täter fördert.
Man spürt aber auch von Anfang an, dass Cassie eine verlorene Seele ist. Sie arbeitet in einem Coffee-Shop, hat augenscheinlich aber kein Interesse oder gar Freude daran, obwohl sie sich gut mit ihrer Chefin versteht und gewissenhaft ihrer Arbeit nachgeht. Cassie ist eine Gefangene ihrer Vergangenheit, sie kann nicht loslassen und schon gar nicht vergessen, was Nina angetan wurde. Von dieser Vergangenheit erfährt man aber erst nach und nach, und was danach mit Nina geschah, wird nicht erklärt.
Als Cassie Ninas Mutter (Molly Shannon) aufsucht, rät ihr diese, endlich loszulassen, denn diese Besuche würden weder ihr noch Nina guttun. Viel später, wenn Cassie Al Monroe konfrontiert, erwähnt er, dass Nina tot sei. Man mag annehmen, dass sie Selbstmord begangen hat, aber genau weiß man es nicht. Cassie selbst merkt nur an, dass die Vergewaltigung Nina vollkommen zerstört hat. Als Motiv für Cassies Verhalten und Aktionen ist das vollkommen ausreichend, es ist aber auch problematisch.
Der Regisseurin und Drehbuchautorin Emerald Fennell wurde der Vorwurf gemacht, einen „Männerhasserfilm“ geschrieben und inszeniert zu haben, und man kann verstehen, warum manche dies so sehen. Denn die Männer in dieser Geschichte haben alle ein rabenschwarzes Herz. Man ist sogar versucht, an den Slogan der frühen Frauenbewegung zu denken: Jeder Mann ist ein potentieller Vergewaltiger. Ob es sich nun um die Männer in den Clubs handelt, die sich um die angeblich betrunkene Cassie „kümmern“ wollen und sich selbst als Retter in der Not sehen, obwohl sie schmierige Sextäter sind, oder um den lieben, netten Ryan, der in Cassie verliebt ist und sie respektvoll und rücksichtsvoll behandelt, sie alle offenbaren irgendwann ihre finstere Seite. Kein Wunder, dass Cassie zutiefst depressiv ist, denn die Welt, die der Film zeichnet, ist böse und grauenvoll, vor allem für Frauen.
Fennell fängt diese Düsternis immerhin teilweise durch ihre stilsichere und punktgenaue Inszenierung auf. Im Mittelpunkt stehen dabei häufig die sexualisierten Attribute der Weiblichkeit, seien es die bunten Fingernägel, der verschmierte Lippenstift oder das nuttig angehauchte Businesskostüm, das auch eine Pornodarstellerin tragen könnte, und häufig weiß man nicht, ob man über diese Übertreibungen lachen soll oder nicht. Aber weder das kitschige Interieur in Cassies Elternhaus noch die luftig-leichte Liebesgeschichte zwischen ihr und Ryan, die sich trotz ihrer depressiven Stimmung und ihrem Misstrauen gegenüber Männern, entwickelt, können darüber hinwegtäuschen, dass dies die Geschichte eines psychischen Zerfalls ist. Die Regisseurin will damit betonen, wie zersetzend, wie brutal ein Sexualdelikt sich auf die Opfer auswirkt. Selbst wenn sie die Tat überleben, ist ein wesentlicher Teil von ihnen tot.
Vielleicht bleibt Ninas Schicksal auch deshalb so ungewiss. Problematisch ist daran aber, dass sowohl Nina als auch Cassie allein auf ihre Rolle als Opfer reduziert werden. Beide waren tatsächlich vielversprechende junge Frauen, die zerstört wurden, aber man erfährt nie, was für Menschen sie einmal waren. Erst ganz am Ende spricht Cassie kurz über Nina und welche wunderbare Freundin sie verloren hat, aber wirklich zu fassen bekommt man sie nicht. Sie bleiben als Opfer abstrakt, reduziert auf das, was ihnen zugestoßen ist, und das ist auf eine eigene Art ebenfalls grausam.
Als Zuschauer ist man von Anfang an fasziniert von Cassie, und es ist wirklich schade, dass Carey Mulligan keinen Oscar für ihre Rolle bekommen hat, denn sie hätte ihn wirklich mehr als verdient. Emerald Fennell spielt gekonnt mit den Erwartungen der Zuschauer, nimmt sie zuerst mit auf einen ungewöhnliche Rachefeldzug, der dann ganz konkrete Züge annimmt, wenn Cassie sich entscheidet, den Menschen, vor allem den Frauen, die damals geholfen haben, das Verbrechen zu vertuschen, den Spiegel vorzuhalten. Für ganz kurze Zeit weckt sie sogar die Hoffnung auf Rettung für Cassie, bevor sie zum endgültigen und brutalen Schlag ausholt. In seinem letzten Drittel ist der Film kaum zu ertragen, und auch wenn er nicht völlig unbefriedigend endet, ist er so düster und zersetzend, dass man danach nicht unbeschwert in seinen Alltag zurückkehren kann. Es ist starkes Kino, das nachdenklich stimmt, über uns, über unsere Gesellschaft und die Welt, in der wir leben.
Note: 2