Lawrence von Arabien

Der Film gilt als einer der großen Klassiker der Filmgeschichte, ein bildgewaltiges Epos, das mit sieben Oscars prämiert wurde. Nur Hauptdarsteller Peter O’Toole, der mit der Rolle berühmt wurde, ging leer aus – wie auch die nächsten sieben Mal, als er nominiert war. Ob wohl der Ehren-Oscar, den er kurz vor seinem Tod 2013 erhielt, ihn darüber hinwegtrösten konnte?

Lawrence von Arabien ist mit knapp vier Stunden kein Film, den man mal eben so anschaut, sondern eine abendfüllende Tätigkeit, auf die man sich vorbereiten sollte. Neben einer ausreichenden Anzahl von Getränken (auch Wüstenbilder können verdammt durstig machen) sollte man zumindest ausgeschlafen sein, denn der Film von 1962 ist nicht gerade flott. Dafür zeigt Netflix eine hervorragend restaurierte Fassung, inklusive einer rund vierminütigen Ouvertüre und einer ebenfalls mit Musik unterlegten Pause, die sich perfekt dafür eignet, für Getränkenachschub zu sorgen oder andere Örtlichkeiten aufzusuchen …

Lawrence von Arabien

1935 kommt T.E. Lawrence (Peter O’Toole) bei einem Motorradunfall ums Leben und wird mit einem Begräbnis in der St. Paul’s Kathedrale geehrt. Von vielen als großer Held verehrt, versuchen die Medien herauszufinden, wer der Mensch hinter der Legende war, und einige, die ihn persönlich kannten, äußern sich nicht ausschließlich positiv.

Während des Ersten Weltkriegs arbeitet Lieutenant Lawrence für das britische Militärhauptquartier in Kairo und gilt bei seinen Vorgesetzten als Problemfall, weil er es mit der Disziplin nicht so genau nimmt, sich über viele Gepflogenheiten lustig macht und oft den Eindruck von Inkompetenz erweckt. Doch er ist auch ungeheuer gebildet und sprachbegabt und wird wegen seiner Arabischkenntnisse und seines Interesses für die Beduinenvölker zu Fürst Faisal (Alec Guinness) geschickt. Auf dem Weg dorthin wird er jedoch Zeuge, wie sein Führer von Sherif Ali (Omar Sharif) ermordet wird – nur weil er einem anderen Stamm angehört.

Lawrence erkennt schnell, dass die Guerillataktiken der Araber im Krieg gegen die Türken von strategischem Nutzen sein können, und er schmiedet einen kühnen Plan: Nur mit 50 Männern unter der Führung von Sherif Ali will er durch die Wüste reiten, um die türkische Garnison und Hafenstadt Akaba zu erobern – ein Himmelfahrtkommando …

Wäre der Film ein klassisches Abenteuer, würde der Kriegszug gegen Akaba als Plot vollkommen ausreichen, da Regisseur David Lean jedoch sämtliche Leistungen Lawrences im Ersten Weltkrieg würdigen möchte, nimmt diese Episode lediglich die erste Hälfte seines Monumentalwerks ein. Die zweite Hälfte handelt von seinem Aufstieg zu „El ‘awrence“, dem bewunderten Anführer arabischer Freischärler, die Anschläge auf das türkische Militär und die Eisenbahnlinien verüben, und endet mit der Eroberung von Damaskus. Dadurch zerfällt der Film in zahllose Anekdoten, die – rückblickend betrachtet – alle davon zu handeln scheinen, dass Männer durch die Wüste reiten.

Zugegeben, die Aufnahmen der Wüste von Kameramann Freddie Young sind spektakulär und werden von der Musik von Maurice Jarre perfekt untermalt. Das ist Bombastkino à la Hollywood, wie es heutzutage nicht mehr gemacht wird, vor allem nicht mehr mit so viel Sinn für Handarbeit und Detailreichtum. Da können die derzeit üblichen, computergenerierten Massen- und Schlachtszenen einfach nicht mithalten.

Filmgeschichte schrieb auch der Anfang mit der rasanten, tödlich endenden Motorradfahrt, die bereits viel über den draufgängerischen Charakter des Helden verrät, der dennoch für viele ein Rätsel geblieben ist. In der Folge versucht Lean in seinem Film nicht nur, der Legende ein menschliches Gesicht zu geben und den wahren Lawrence mit all seinen Schwächen und Fehlern auferstehen zu lassen, sondern er spürt auch den Abgründen des Ruhms und der Macht nach.

Peter O’Toole verleiht seinem Lawrence ein facettenreiches Gesicht und hätte den Oscar dafür allemal verdient gehabt (der Preis ging damals an Gregory Peck für Wer die Nachtigall stört, zugegebenermaßen ebenfalls hochverdient). Man lernt ihn als leichtlebigen Soldaten kennen, der sich selbst und die Strenge des Militärs nicht so recht ernst zu nehmen scheint. Doch in Lawrence steckt mehr, als man auf den ersten Blick erahnen kann, und auch wenn seine Vorgesetzten froh sind, ihn loszuwerden, wissen sie gleichzeitig, dass seine Liebe zu Arabien und den Beduinenvölkern und seine genaue Beobachtungsgabe wertvolle Erkenntnisse liefern können: Lawrence soll herausfinden, was die Araber wollen, und schwingt sich bald zu deren Mentor auf. Sein Traum ist ein eigener arabischer Staat, was er Faisal auch in Aussicht stellt, wohl wissend, dass die Kolonialherren ganz andere Pläne haben.

Hier weicht Lean wie auch in etlichen anderen Punkt von der historischen Wirklichkeit ab, nicht nur, um sein Werk spannender zu machen, sondern auch, um Lawrence idealistischer und mutiger zu zeichnen, als er vielleicht war. Dennoch ist das ambivalente Porträt dieses cleveren Strategen und Machtpolitikers eindrucksvoll, denn Lean spart nicht die dunklen Seiten dieses Mannes aus: Nachdem er das erste Mal einen Mann hinrichten musste – noch viel schlimmer, einen Mann, den er erst kurz zuvor unter Lebensgefahr gerettet hat – erkennt er, dass in ihm eine Bestie schlummert, die Geschmack und sogar Freude am Töten findet. Dieser Wesenszug bricht auch später wieder durch, wenn er arabische Soldaten gegen die Türken führt, und ist eng mit dem Wahnsinn verwandt, der ihn schließlich befällt, wenn er zu lange in die Abgründe des Krieges blickt.

Das hebt die Darstellung erfreulich von der reinen Heldenverehrung ab, im Gegenteil, diese wird sogar kritisiert, als mit der Gestalt des Amerikaners Bentley (Arthur Kennedy) ein Journalist auftaucht, der nach einem Anführer sucht, der sich perfekt dazu eignet, seine zögerlichen Landsleute zum Kriegseintritt zu bewegen. Später wird sich dann sogar Bentley mit Abscheu von Lawrence abwenden.

Nur an einer Stelle wirkt das Porträt unglaubwürdig: Wenn Lawrence zermürbt vom Krieg, angeekelt vom Blutvergießen und desillusioniert von seiner Aufgabe ist, gelingt es ausgerechnet seinem Vorgesetzten viel zu schnell und viel zu leicht, ihn wieder in die Rolle des idealistischen Anführers und überheblichen Heilsbringers zu drängen. Da hätten die Autoren Robert Bolt und Michael Wilson sich etwas Besseres einfallen lassen können. Ein weiterer, inzwischen bekannter Aspekt, nämlich Lawrences mutmaßliche Homosexualität, wird natürlich nicht explizit angesprochen, von O’Toole aber so gekonnt und oft nicht gerade subtil angedeutet, dass man sich seinen Teil denken kann.

Aus heutiger Sicht ist es bemerkenswert, dass mit Omar Sharif immerhin ein Ägypter in einer führenden Rolle besetzt wurde. Neben den genannten Schauspielern tauchen noch Anthony Quinn und Claude Rains in prominenten Nebenrollen auf, aber sie bekommen nur wenig Raum, sich zu entfalten, denn dies ist eine einzige One-Man-Show. Lawrence von Arabien ist, und auch das ist im Jahr 2021 auffällig, ein reiner Männerfilm, denn es gibt nicht eine einzige weibliche Darstellerin …

Alles in allem ein Film, den man unbedingt gesehen haben sollte, nicht nur wegen seines vielschichten Porträts eines außergewöhnlichen Mannes, sondern vor allem wegen der betörend schönen Bilder und der berühmten Musik. Man sollte aber auch eine Menge Geduld mitbringen.

Note: 2

Dieser Eintrag wurde veröffentlicht in Pi Jays Corner und verschlagwortet mit von Pi Jay. Permanenter Link zum Eintrag.

Über Pi Jay

Ein Mann des geschriebenen Wortes, der mit fünfzehn Jahren unbedingt eines werden wollte: Romanautor. Statt dessen arbeitete er einige Zeit bei einer Tageszeitung, bekam eine wöchentliche Serie - und suchte sich nach zwei Jahren einen neuen Job. Nach Umwegen in einem Kaltwalzwerk und dem Öffentlichen Dienst bewarb er sich erfolgreich an der Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg. Er drehte selbst einige Kurzfilme und schrieb die Bücher für ein halbes Dutzend weitere. Inzwischen arbeitet er als Drehbuchautor, Lektor und Dozent für Drehbuch und Dramaturgie - und hat bislang fünf Romane veröffentlicht.