Sweet Tooth

Was soll man nur von einer Serie halten, die als Mischung aus Bambi und Mad Max beworben wird? Zumindest macht die Beschreibung neugierig, und damit haben die Marketingleute schon mal ihr Ziel erreicht. Aber auch der Trailer sah gut aus, und so war ich relativ kurz nach der Veröffentlichung auf Netflix dabei – und gleich von der ersten Folge an gefesselt. Was nicht besonders häufig bei Serien vorkommt.

Die Geschichte spielt in einer Welt, in der eine gefährliche Pandemie über die Bevölkerung hereinbricht und einen Großteil der Menschheit auslöscht. Gleichzeitig werden immer mehr Babys geboren, die halb Mensch, halb Tier sind. Die Leute geraten in Panik, viele geben den Hybrid-Kindern die Schuld an der Seuche, und so kommt es zu Ausschreitungen gegen diese Zwitterwesen, während langsam die Welt untergeht.

Einige Jahre später: Gus (Christian Convery) ist ein neunjähriger Junge mit Hirschgeweih, der in den Wäldern des früheren Yellowstone Nationalparks aufwacht, in den sein Vater (Will Forte) gezogen war, um der Seuche und den Repressalien zu entgehen. Als sie jedoch von einer Gruppe Jäger aufgespürt werden, ist es mit der Idylle vorbei, und Gus verliert seinen Vater im Kampf. Einige Monate lang schlägt er sich alleine durch, bis er auf Jepperd (Nonso Anozie) stößt, der ihn vor weiteren gefährlichen Männern rettet und dem sich Gus beherzt anschließt, um seine Mutter im fernen Colorado zu finden …

Bilder vom Ausbruch einer Seuche zu sehen, während die Erinnerungen an den letzten Corona-Lockdown noch frisch sind, hat etwas zusätzlich Beklemmendes, und unwillkürlich ertappt man sich bei dem Gedanken: Na, da haben wir ja noch mal Glück gehabt. Denn die Seuche, die an eine Grippe erinnert und mit einem unkontrollierbaren Zucken des kleinen Fingers einhergeht, ist einer Covid-Erkrankung gar nicht so unähnlich. Gedreht wurde zudem im vergangenen Jahr unter eingeschränkten Bedingungen, was vermutlich auch auf dem Set bisweilen für eine nachdenkliche Stimmung gesorgt haben dürfte.

Das Setting ist jedenfalls ausgesprochen gelungen, und auch die Bilder von unserer untergegangenen Zivilisation sehen gut aus, mitunter vielleicht ein bisschen zu malerisch. Aber das ist dem märchenhaften Charakter der Geschichte geschuldet, die trotz aller Düsternis reinstes Family-Entertainment ist. Die Vorlage ist eine erfolgreiche Comicbuchreihe von Jeff Lemire, die 2013 zu Ende ging. Man darf also davon ausgehen, dass Netflix, das die Produktion von Hulu übernommen hat, sie nicht endlos ausschlachten wird.

Die acht Folgen der ersten Staffel sind ausgesprochen kurzweilig und leben vor allem von der perfekt besetzten Hauptfigur. Man muss den mutigen, treuherzigen Gus einfach lieben, der auf seiner Reise durch eine gefährliche, fremde Welt viel über das Leben und die Menschen lernt, aber auch über seinen eigenen Ursprung. Auch sein Begleiter Jeppard ist eine interessante, da ambivalente Figur, ein ehemaliger Footballstar, der früher Jagd auf Hybridkinder gemacht hat, und sich eher widerwillig um Gus kümmert. Wie aus den beiden langsam Freunde werden, ist unheimlich schön geschildert. Als dritte Reisegefährtin stößt im Verlauf der Serie noch Bär (Stefania LaVie Owen) zu ihnen, die kein Hybridwesen ist, sondern sich zusammen mit anderen jungen Menschen geschworen hat, diese zu schützen. Also Fridays for Future mit Kampfausbildung und der selbsterteilten Lizenz zum Töten.

Darüber hinaus gibt es noch einige andere wichtige Figuren, deren Schicksale geschildert werden: Da ist Dr. Singh (Adeel Akhtar), ein Arzt, dessen Frau Rani (Aliza Vellani) an dem Virus erkrankt, aber dank neu entwickelter Medikamente von ihm am Leben gehalten werden kann – auch wenn er erkennen muss, dass er dafür einen sehr hohen moralischen Preis zu zahlen hat. Oder Aimee (Dania Ramirez), die in einem verlassenen Zoo eine Zuflucht für Hybridkinder schafft und von den „Last Men“ bedroht wird, einer paramilitärischen Gruppe, die die Seuche mit allen Mitteln ausrotten will und dafür die Tiermenschen jagt und für wissenschaftliche Zwecke missbraucht.

All diese Leben sind auf schicksalhafte Weise miteinander verbunden, was zu einer Reihe unwahrscheinlicher Zufälle führt, die teilweise leider arg konstruiert wirken. Aber es gibt genügend tolle Schauwerte, spannende, nachdenkliche, witzige und berührende Momente, die diese Schwäche mehr als genügend wettmachen.

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Über Pi Jay

Ein Mann des geschriebenen Wortes, der mit fünfzehn Jahren unbedingt eines werden wollte: Romanautor. Statt dessen arbeitete er einige Zeit bei einer Tageszeitung, bekam eine wöchentliche Serie - und suchte sich nach zwei Jahren einen neuen Job. Nach Umwegen in einem Kaltwalzwerk und dem Öffentlichen Dienst bewarb er sich erfolgreich an der Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg. Er drehte selbst einige Kurzfilme und schrieb die Bücher für ein halbes Dutzend weitere. Inzwischen arbeitet er als Drehbuchautor, Lektor und Dozent für Drehbuch und Dramaturgie - und hat bislang fünf Romane veröffentlicht.