Verbrecher und kriminelle Banden sind für uns gesetzestreue Bürger faszinierende Figuren, vollkommen skrupellos und ohne Rücksichtnahme auf andere, pure Egoisten, die sich nehmen, was sie wollen. Sie verhalten sich so, wie wir es nie tun würden, auch wenn wir in unseren dunkelsten Momenten davon fantasieren (zum Beispiel, wenn sich jemand an der Kasse vordrängelt). Mit ihnen tauchen wir in eine geheime, gefährliche Welt ein und erleben an ihrer Seite Abenteuer, ohne dafür ein Risiko eingehen zu müssen. Es sind Parallelwelten mit eigenen Regeln und Gesetzen, aber mit Figuren, deren Sehnsüchte und Wünsche von den unseren gar nicht so verschieden sind, weshalb es leicht fällt, sich mit ihnen zu identifizieren.
Schon früh wurden diese Gangster zu Ikonen, und die Filme, in denen sie auftauchten, waren oft stilistische Meisterwerke, die sich in unser kollektives Gedächtnis eingebrannt haben. Man denke an James Cagney und seine berühmtesten Szenen: Wenn er in Der öffentliche Feind seiner Geliebten eine Grapefruit ins Gesicht drückt oder am Ende von Sprung in den Tod spektakulär ums Leben kommt (und eines der bekanntesten Filmzitate aller Zeiten spricht), sind das Momente, die vielfach kopiert, auch persifliert wurden und so die Filmsprache prägten. Später sollten Francis Ford Coppola (Der Pate), Brian De Palma (Scarface) und Martin Scorsese (GoodFellas – Drei Jahrzehnte in der Mafia) sowie Quentin Tarantino (Pulp Fiction) viel dazu beitragen, das Bild des coolen Gangsters zu perfektionieren.
John Wick ist eine der jüngsten Figuren in der Geschichte des Gangsterfilms, die für Furore gesorgt haben, dank der amüsanten Drehbücher von Derek Kolstad und der genialen Regie von Chad Stahelski. Und mit etwas Glück, wird Gunpowder Milkshake in diesem Jahr in dieselben Fußstapfen treten …
Neben der Hauptfigur spielt in der John Wick-Reihe auch ein Ort eine besondere, geheimnisvolle Rolle: das Hotel Continental, ein neutraler Ort, an dem Gangster und Auftragsmörder sich begegnen, mit eigenen Regeln und Gesetzen. Kein Wunder, dass eine Serie rund um diese Einrichtung geplant ist.
Mit Hotel Artemis ist 2018 ein Film in unsere Kinos gekommen, der an einem ähnlichen Ort spielt. Auch hier finden Gangster Zuflucht, allerdings ist es eine geheime Klinik, in der sie ihre Wunden verarzten lassen können, und da der Film überaus gut besetzt ist, war ich neugierig, ob er mich ähnlich begeistert wie John Wick …
Hotel Artemis
2028 in Los Angeles: Nachdem die Wasserversorgung privatisiert wurde, können sich nur noch Besserverdienende das kostbare Nass leisten. Gegen die anhaltende Wasserknappheit beginnen die Bürger zu rebellieren und verwandeln Downtown in einen wüsten Kriegsschauplatz. Diesen Umstand machen sich zwei Brüder (Sterling K. Brown und Brian Tyree Henry) zunutze, um eine Bank auszurauben. Doch der Überfall geht schief, und sie werden angeschossen. Zuflucht finden sie im Hotel Artemis, wo ihnen die Decknamen Waikiki und Honolulu zugeteilt werden. Zwei weitere Gäste kurieren dort ebenfalls ihre Blessuren: Der Waffenhändler Acapulco (Charlie Day) und die Auftragsmörderin Nice (Sofia Boutella). Als der gefürchtete Gangsterboss Niagara (Jeff Goldblum) durch seinen Sohn Crosby (Zachary Quinto) seine Ankunft anmeldet und gleichzeitig eine verletzte Polizistin vor der Tür steht, droht die Situation für die leitende Ärztin (Jodie Foster) und ihrem Helfer (Dave Bautista) völlig aus dem Ruder zu laufen …
Die ausgefallenen Decknamen und die komplexe Figurenkonstellation erinnern stark an Quentin Tarantinos Filme. Jeder Gangster hat seine eigene Geschichte, ist auf der Flucht, plant, jemanden zu töten, oder versucht, eine verhängnisvolle Tat ungeschehen zu machen. Die meisten kennen sich, haben eine gemeinsame Vergangenheit oder geraten aufgrund ihres unberechenbaren Temperaments aneinander. Auch die Ärztin, die wegen ihrer Alkoholsucht schon längst ihre Approbation verloren hat und nie über den Tod ihres Sohnes hinweggekommen ist, wird von den Dämonen ihrer Vergangenheit verfolgt und erfährt überraschend Neues über lange zurückliegende Ereignisse.
Drehbuchautor und Regisseur Drew Pearce gibt sich viel Mühe, komplexe Figuren zu erschaffen, die ernsthafte Konflikte zu lösen haben, ihre Vergangenheit aufarbeiten oder lernen müssen, sich zu ändern. Das ist grundsolide geschildert, ufert aber auch schnell aus. Jodie Fosters Figur zum Beispiel muss sich nicht nur ihrem größten Verlust stellen und dabei ein Geheimnis lüften, sondern zugleich auch ihre Agoraphobie überwinden. Das wird zwar gewohnt großartig von ihr gespielt, sorgt aber auch dafür, dass sich manche Entwicklungen viel zu schnell vollziehen, um vollends zu überzeugen. Andere Handlungsstränge bleiben sogar ganz auf der Strecke.
Die ersten zwei Drittel des Films braucht Pearce also dafür, seine Figuren vorzustellen, uns ihre Probleme zu erklären und die verzwickten Beziehungskonstellationen zu erklären. Erst im letzten Drittel beginnt die Action, die stellenweise sehr solide inszeniert ist, aber insgesamt doch hinter den Erwartungen zurückbleibt.
Der Film lohnt sich aufgrund der tollen Besetzung, denn fast jede Rolle ist außerordentlich gut besetzt, und jeder Schauspieler bekommt seinen besonderen Moment. Wenn man jedoch die Coolness eines Quentin Tarantinos oder die vollendeten Actionszenen eines Chad Stahelski erwartet, dürfte man etwas enttäuscht werden.
Note: 3