Es ist momentan nicht leicht, Kino-Fan oder Kino-Besitzer zu sein. Seit fast vier Monaten sind die Kinos in Deutschland (wieder) geschlossen, und ein Ende ist immer noch nicht in Sicht. Ich leide an den Entzugserscheinungen, aber die Kino-Besitzer leiden unter dem Entzug ihrer Existenzgrundlagen.
Nicht wenige Kinos mit Dutzenden von Leinwänden haben schon verkündet, dass sie nach der Corona-Pause nicht wieder öffnen werden. Auch bei den Filmverleihern ist die Situation alles andere als entspannt. Bei manchen von ihnen ist der Großteil des Personals schon bald ein Jahr in Kurzarbeit.
Die ganze Branche hofft, dass das peinliche Impf-Debakel bald hinter uns liegt und es zu keiner dritten Welle und keinem dritten Lockdown kommt. Und dennoch gab es in den letzten Monaten unzählige Nachrufe auf „das Kino“. Und ich frage mich, warum?
Das Kino hat unzählige Krisen überlebt, von Hyperinflation zur Weltwirtschaftskrise, von Weltkriegen bis zum Siegeszug des Fernsehers. Es hat Video, DVD und Piraterie überstanden, und es wird sicherlich auch diese verdammte Pandemie überleben.
Sieht dies nach einer dem Tod geweihten Branche aus?
Und woher nehme ich meinen Optimismus? Ganz einfach, ich brauche mir nur anzusehen, was in anderen Ländern geschieht. In Japan hat Demon Slayer – Mugen Train (Start: 16. Oktober 2020) alle Rekorde gebrochen und wurde mit bislang 27,3 Mio. Besuchern zum erfolgreichsten Film aller Zeiten. Das sind drei Millionen Besucher mehr als beim bisherigen Rekordhalter Chihiros Reise ins Zauberland von 2001, obwohl die Einwohnerzahl Japans seither geschrumpft ist.
In China wurde The Eight Hundred (Start: 21. August 2020) zum zehnterfolgreichsten Film aller Zeiten, aber das ist noch gar nichts verglichen mit dem, was vergangene Woche in der Volksrepublik los war. In den USA/Kanada liegt der Startwochenrekord bei $473.894.638 (Avengers – Endgame). Dieser All-Time Rekord wurde in China nicht nur von einem Film, sondern gleich von zwei Filmen gebrochen – nämlich von Detective Chinatown 3 ($578 Mio.) und Hi, Mom ($490 Mio.). Letztgenannter hat sogar Chancen, einer der drei erfolgreichsten Filme aller Zeiten in China zu werden.
Aber auch in Europa gibt es Zahlen, die sehr zuversichtlich stimmen. In Russland wurde The Last Warrior 2 (Start: 31. Dezember 2020) mit bislang 7.336.106 Besuchern trotz starker Weihnachtskonkurrenz wieder zum Überblockbuster – nur geringfügig niedriger als der erste Teil mit 7.785.126 Besuchern. Der Abstand zum ersten Teil wird noch weiter sinken, da das Sequel noch immer in den Top Ten ist.
Und in unserem Nachbarland zählte der dänische Oscar-Beitrag Der Rausch (Start: 24. September 2020) in nur zwölf Wochen berauschende 802.462 Besucher, bevor die dänischen Kinos wieder in den Lockdown gingen. Das wären auf die Einwohnerzahl Deutschlands hochgerechnet 11,5 Mio. Besucher!
Diese Beispiele zeigen mir, dass Kinobesucher die Kinos auch tatsächlich besuchen wollen, wenn man sie lässt und es attraktive Filme zu sehen gibt. Wenn es das Wetter gut meint, glaube ich deswegen an eine hervorragende Open Air-Saison in Deutschland, gefolgt von einem starken Kinoherbst, sollte die Regierung ihr Versprechen einhalten, dass bis zum Ende des Sommers jeder Bundesbürger geimpft ist, der geimpft werden will…
Aber was ist mit dem zweiten Branchenkiller?
In den Nachrufen auf das Kino wurde als zweiter Todesbringer der Erfolg der Streamingdienste und das Schrumpfen des Kinofensters genannt. Natürlich ist das Kinofenster ein wichtiger Bestandteil unserer Branche, aber es ist nicht alles entscheidend…
Es gibt Millionen von Menschen, die nie eine DVD gekauft oder geliehen haben und es wird auch in Zukunft Millionen von Menschen geben, die keinen Streamingdienst abonnieren werden (geschweige denn alle Streamingdienste). Zudem gibt es erste Untersuchungen, die zeigen, dass Streaming eher zu Lasten herkömmlicher Medien wie Free-TV oder DVD geht.
Es liegt an den Verleihern und Kinobetreibern, ein vernünftiges Nebeneinander der Formate zu ermöglichen. Momentan bezahlen die Kinos bis zu 53 % Miete an den Verleih, um einen Film vier Monate lang exklusiv auszuwerten. Wenn die Exklusivität schwindet, dann ist so ein hoher Prozentsatz natürlich obsolet. Warum sich also nicht darauf einigen, nur noch 48 % Miete zu zahlen, wenn das Fenster drei Monate beträgt, 43 % Miete bei zwei Monaten, 38 % bei einem Monat und 33 % bei zeitgleichem Digital Release?
Ich denke, mit so einem Modell könnten sowohl die Studios als auch die Kinos bei jedem Film individuell entscheiden, ob sich ein wie auch immer gearteter Einsatz lohnt… Übrigens, im (zurzeit) größten Kinomarkt der Welt (China) ist jeder Film nur 31 Tage im Einsatz – einige wenige Filme im Jahr bekommen eine Ausnahmegenehmigung für einen längeren Einsatz.
Außerdem möchte ich daran erinnern, dass Streamer eventuell auch die Kinohits von morgen ermöglichen könnten, so wie es auch bei anderen Konkurrenten geschehen ist. High School Musical 1 & 2 waren TV-Filme für den Disney Channel, High School Musical 3 (Start: 23. Oktober 2008) dann ein 2,3 Mio. Besucher-Hit in den deutschen Kinos. Männer (Start: 19. Dezember 1985) mit seinen 5,2 Mio. Besuchern war ein deutscher Fernsehfilm, der im Kino ausgewertet wurde. Der Schuh des Manitu (Start: 19. Juli 2001) mit unglaublichen 11,7 Mio. Besuchern basiert auf Sketchen der Bullyparade. Und von anderen TV-Hits wie Star Trek, Flintstones oder Mission: Impossible und vielen anderen will ich erst gar nicht anfangen. Wer weiß, ob ein Grogu– oder ein Game of Thrones-Kinofilm nicht auch ein Millionenpublikum finden würde…
Wie in jedem Medium gibt es auch bei den Streamern viel Durchschnitt, jede Menge Schrott und natürlich auch einige wenige Highlights, die man sehen will. Aber trotz angeblich ausgeklügelter Algorithmen, landet man in der Regel beim Schrott. Und selbst die Highlights finden in der öffentlichen Wahrnehmung nicht richtig statt. Streamingfilme mit Superstars wie Brad Pitt oder Will Smith sind wesentlich weniger in der Öffentlichkeit präsent als Kinofilme mit den Beiden.
Dies liegt unter anderem daran, dass die Streamingdienste einen entscheidenden Nachteil gegenüber dem Kino haben: Die fehlende Magie! Jede Komödie ist im Kino – wenn ein paar Hundert weitere Besucher mitlachen – witziger als allein zu Hause. Jeder Schockmoment in einem Horrorfilm ist intensiver, wenn sich der ganze Saal erschreckt.
Ich habe ja 17 Jahre selbst Kino gemacht, und während dieser Zeit gab es einen Film im Programm, der diese Kino-Magie nicht besser hätte verdeutlichen können: My Girl – Meine erste Liebe (Start: 9. Januar 1992) mit Anna Chlumsky und Macaulay Culkin. Die Dramödie war bei uns sehr erfolgreich und unser größter Saal mit 578 Plätzen ausverkauft. Und es gab für mich nichts Schöneres, als während der ersten Hälfte in den Saal zu gehen, um zu beobachten, wie fast 600 Menschen brüllen vor Lachen, während man gegen Ende des Films zusehen konnte, wie fast 600 Menschen nach den Taschentüchern greifen – Magie pur…
Was müssen die Kinos tun?
Vor einigen Monaten machte die Geschichte von einem Reporter die Runde, der bei einem großen Streamingdienst nach mehr Informationen zu einem Film nachfragte, der als potenziell preiswürdig galt, aber die PR-Abteilung des Streamers wusste nicht einmal, dass dieser Film im eigenen Portal gestreamt wurde.
Diese Anekdote veranschaulicht sehr gut, dass Filme im Angebot der Streamer aufgrund der Masse an Content untergehen, wenn man als User nicht direkt nach ihnen sucht. Deswegen muss für Kinobetreiber nun eindeutig das Prinzip „Klasse statt Masse“ gelten. Masse gibt es bei den Streamern, in den Kinos sollte es von nun an nur noch klasse Filme geben.
Sie müssen weg von der Idiotie, jeden Film zum Start mitspielen zu wollen, nur weil eine Kopie verfügbar ist. Sie müssen weg davon, Filme zu starten, von denen sie wissen, dass die Kritiken und Besuchermeinungen katastrophal sind, die aber trotzdem mit 300 Kopien gestartet werden.
Jeder zufriedene Besucher, der einen guten Film gesehen hat, kommt gerne wieder. Bei Stinkern überlegt er es sich zweimal. Ein kurzer Blick auf den IMDB-Wert sollte genügen, ob sich ein Einsatz lohnt. Ein Wert unter 6,0 (entspricht etwa der Schulnote 3) könnte als Orientierungshilfe funktionieren.
Umgekehrt müssen gute Filme gepflegt werden. Wenn ein guter Film nicht gleich die erhofften Zahlen bringt, dann darf dies nicht bedeuten, dass er in der zweiten Woche nur noch am Freitag um 23:00 Uhr zu sehen ist.
Jeder Betreiber muss für das qualitativ bestmögliche Programm sorgen und sein Publikum kennen und verwöhnen. Und dazu gehören natürlich auch Sonderprogramme wie Klassiker-Reihen, „der besondere Film“-Reihen oder kleine Filmfeste mit französischen Filmen etc. – die Möglichkeiten, ein faszinierendes Programm auf die Beine zu stellen, sind endlos.
Selbstverständlich muss auch der Rest stimmen – ein schönes Ambiente, beste Technik und freundliches Personal – aber die Zeit der „Ich mach die Türen auf und die Leute werden schon kommen“-Betreiber ist endgültig vorbei…