Der verlorene Sohn

2020 wirkt wie ein großes Brennglas. Die Corona-Pandemie rückt scheinbar all die Dinge in den Fokus, die bei normal laufendem Alltagsbetrieb weitgehend unter dem Radar bleiben, kleine gesellschaftliche Unregelmäßigkeiten oder Kuriositäten, die man sonst mit einem Kopfschütteln abtun kann, die nun aber nicht mehr zu ignorieren sind. Und die oft zu einem Problem werden können. In Deutschland ist es der zunehmende Glaube an „alternative Fakten“ und Verschwörungstheorien. Besonders QAnon erfreut sich hierzulande – nach den USA – an größerer Beliebtheit als überall sonst auf dem Planeten.

Menschen glauben an Dinge, die von der Wissenschaft längst widerlegt sind, sie hängen Meinungen an, die so verrückt sind, dass allein ihr lautes Aussprechen ihre Absurdität deutlich machen müsste – und dennoch lassen sie sich nicht beirren. Bei uns sind es noch relativ wenige Menschen, die man so leicht als Aluthut-Träger verunglimpfen kann, doch ihre Zahl wächst, und in den USA scheint sich gerade eine Parallelgesellschaft zu entwickeln, die beispielsweise nicht mehr glaubt, dass Biden der rechtmäßig gewählte Präsident ist.

Daran musste ich denken, als ich Der verlorene Sohn gesehen habe, in dem es um die Konversionstherapie geht, mit deren Hilfe Homosexualität geheilt werden soll, die inzwischen aber als Scharlatanerie entlarvt ist. Dennoch ist sie in manchen Teilen der USA noch verbreitet. Da mir das Ende in Uncle Frank etwas zu unrealistisch erschien, dachte ich, dass Der verlorene Sohn gut als Ergänzung zu dem Thema Homosexualität in den christlichen Südstaaten Amerikas passt. Auch dieser Film ist bei Prime Video zu sehen.

Der verlorene Sohn

Jared (Lucas Hedges) hat sich als schwul geoutet. Als Sohn eines Baptisten-Predigers (Russell Crowe) in Arkansas gerät er dadurch in eine prekäre Situation, denn der strenge Glaube der Eltern lässt nicht zu, dass sie diese Veranlagung tolerieren. Jared muss sich entscheiden, entweder er verliert den Rückhalt seiner Familie oder er unterzieht sich einer Konversionstherapie in einer kirchlichen Einrichtung, die sich „Love in Action“ nennt. Jared wählt die Therapie, in der er authentisches männliches Verhalten lernt und wo ihm beigebracht wird, dass seine Veranlagung nicht nur eine frei wählbare Entscheidung ist, sondern auch durch Fehlverhalten in seinem Umfeld beeinflusst wurde.

Die Schlüsselszene des Films kommt sehr spät, und in ihr wird Jared von dem Leiter des Therapiezentrums Sykes (Joel Edgerton) über sein moralisches Fehlverhalten befragt. Zuvor hat er sich an zwei sexuelle Begegnungen erinnert, durch die ihm bewusst wurde, dass er homosexuell ist, die eine war eine Vergewaltigung durch einen College-Freund (Joe Alwyn), für den Jared Gefühle entwickelt hatte, die zweite die gemeinsame und keusche Nacht mit einem attraktiven Künstler (Théodore Pellerin). Weil Jared für die erste Situation nicht die moralische Verantwortung übernehmen will und sich in der zweiten keine sexuellen Handlungen ergeben haben, glaubt Sykes nicht, dass er ehrlich ist. Für ihn ist Jared nicht sündig genug. Als er dann noch verlangt, dass Jared eine imaginäre Unterhaltung mit seinem verhassten Vater führen soll, begehrt der Junge gegen die Therapie auf: Denn Jared hasst seinen Vater nicht.

Diese Szene bringt auch gut das Wesen des Films auf den Punkt. Die Geschichte basiert auf den Memoiren von Garrard Conley und wurde von Joel Edgerton in ein Drehbuch umgewandelt und inszeniert. Dabei scheinen alle Beteiligten großes Augenmerk auf eine ausgewogene und faire Darstellung gelegt zu haben, die niemanden bloßstellen oder beleidigen soll. Diese Fairness sorgt für einen nüchternen, unverstellten Blick auf eine typische Familie im Bible Belt und die Probleme, die auftreten, wenn eines ihrer Mitglieder nicht in ihr vorgefertigtes Weltbild passt. Homosexualität ist nur das bekannteste Beispiel, auch Suchterkrankungen oder der Konsum von Pornografie werden als sündiges Fehlverhalten begriffen, das durch Bekenntnis, Reue und vor allem Gebete wiedergutgemacht werden kann. Letzten Endes, und darauf spielt der Originaltitel Boy Erased an, geht es aber um die Ausmerzung individueller Persönlichkeitsmerkmale.

In Jareds Fall greift dieser Prozess in eine Phase seines Lebens ein, in der er gerade dabei ist, sich selbst zu finden und erwachsen zu werden. Dass es ihm trotz der Konversionstherapie gelingt, am Ende zu einer gereiften Persönlichkeit zu werden, ist gut erzählt und toll gespielt. Es wird dem Zuschauer aber nicht leicht gemacht, Zugang zu Jared zu finden, vor allem wenn seine Sexualität, um die es im Kern geht, praktisch nicht zur Sprache kommt. Die gezeigten Erfahrungen sind allesamt außergewöhnlich und lenken den Fokus nach der Vergewaltigung eher auf den Umgang mit einer traumatischen Situation, der dann aber nicht stattfindet. So werden wichtige Aspekte in Jareds Persönlichkeit nicht deutlich genug. Zu einem Großteil liegt das auch an der Einsamkeit der Figur. Jared scheint keine Freunde zu haben, denen er sich anvertrauen, mit denen er über seine Gefühle reden kann, und das macht es schwierig, ihn wirklich zu verstehen.

Die größte Entwicklung in der Geschichte macht neben Jared noch seine Mutter (Nicole Kidman) durch, die sich mit der Zeit gegenüber ihrem Mann emanzipiert und ihr Kind über die Dogmen ihres Glaubens stellt. Auch das ist eindrucksvoll gespielt.

Insgesamt bleibt die Geschichte jedoch hinter den Erwartungen zurück. Die Zurückhaltung in der Darstellung der Figuren ist zwar löblich, weil sie erlaubt, selbst mit Sykes noch Mitleid zu empfinden, lässt sie aber andererseits nie wirklich bedrohlich erscheinen. Sogar eine vermeintliche Dämonenaustreibung wirkt eher wie ein putziges Happening. Die Empörung, die sich einstellen sollte, weil junge Menschen psychisch manipuliert und gebrochen werden, stellt sich jedenfalls nicht schon beim Anschauen ein. Die wahre Perfidität des Systems erschließt sich erst bei genauerem Nachdenken. Deshalb ist Der verlorene Sohn ein Film, der nicht über Emotionen funktioniert, sondern über den Intellekt, er ist weniger leidenschaftlich und eindringlich, sondern vielmehr aufklärerisch und damit leider auch ein bisschen lauwarm.

Note: 3

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Über Pi Jay

Ein Mann des geschriebenen Wortes, der mit fünfzehn Jahren unbedingt eines werden wollte: Romanautor. Statt dessen arbeitete er einige Zeit bei einer Tageszeitung, bekam eine wöchentliche Serie - und suchte sich nach zwei Jahren einen neuen Job. Nach Umwegen in einem Kaltwalzwerk und dem Öffentlichen Dienst bewarb er sich erfolgreich an der Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg. Er drehte selbst einige Kurzfilme und schrieb die Bücher für ein halbes Dutzend weitere. Inzwischen arbeitet er als Drehbuchautor, Lektor und Dozent für Drehbuch und Dramaturgie - und hat bislang fünf Romane veröffentlicht.