Als Winter’s Bone 2011 in unsere Kinos kam, wollte ich ihn mir ansehen, weil ich nur Gutes gehört hatte, insbesondere über eine aufregende junge Schauspielerin, die das Zeug hat, ein Star in Hollywood zu werden: Jennifer Lawrence. Leider habe ich es nicht geschafft, ins Kino zu gehen, oder der Film lief nicht in einem Lichtspielhaus in meiner Nähe. Ich weiß es nicht mehr. Der Film geriet ein wenig in Vergessenheit, bis er dann im Spätprogramm der ARD lief und ich ihn aufnahm. Um ihn dann prompt erneut zu vergessen. Jetzt habe ich ihn endlich gesehen – allerdings auf Amazon Prime …
Winter’s Bone
Ree (Jennifer Lawrence) ist erst siebzehn, muss sich aber bereits um ihre kleinen Geschwister und die schwer depressive Mutter kümmern. Ihr Vater hat wegen der Herstellung von Crystal Meth im Gefängnis gesessen und ist vor einiger Zeit auf Bewährung entlassen worden. Jetzt erfährt sie, dass er sich erneut etwas hat zuschulden kommen lassen und vor Gericht erscheinen muss. Taucht er dort nicht auf, verliert die Familie das Haus, das er zur Absicherung seiner Kaution eingesetzt hat. Also macht Ree sich auf die Suche nach ihm, stößt dabei jedoch bei ihren Nachbarn und Verwandten auf großen Widerstand.
Daniel Woodrell, der Autor des gleichnamigen Romans, schreibt nahezu immer über die Ozarks, eine abgelegene Region zwischen Missouri und Arkansas, vielen vielleicht als Schauplatz der gleichnamigen TV-Serie bekannt. In seinen Büchern geht es vor allem um den „White Trash“, die verarmte Landbevölkerung, die vom Drogenhandel und anderen Verbrechen lebt, sich gegenseitig bis aufs Blut bekämpft, gegenüber allen Fremden jedoch zusammenhält.
Auch Ree entstammt dieser Schicht, und die Hoffnungslosigkeit, die Jennifer Lawrence dieser Figur wie eine Art Aura verleiht, bricht einem schon nach wenigen Minuten das Herz. Ree erwartet nichts mehr vom Leben, sie kümmert sich liebevoll um ihre Geschwister und die katatonische Mutter, obwohl sie am liebsten abhauen würde. In den Ozarks gibt es keine Zukunft, und wenn, sieht sie düster aus. Frauen stehen dabei ganz unten in der Nahrungskette. Alle sind verheiratet, meist schon in jungen Jahren, ziehen die Kinder auf und gehorchen ihren Männern so brav wie die obligatorischen Hunde, die in den trostlosen Höfen angekettet werden. Jedes Widerwort, jede eigene Meinung wird mit verbalen oder körperlichen Misshandlungen bestraft. Der Mann ist hier Gott. Das ist ein Amerika, das man selten in Filmen sieht. Im Grunde ist es das Amerika der Trumpisten.
Regisseurin Debra Granik wirft einen gnadenlosen, beinahe dokumentarischen Blick auf diese fremde, exotische Welt, in der Ree versucht, ihrer Familie wenigstens das Dach über dem Kopf zu retten. Denn sonst müssen sie auf der Straße leben, schlechter gestellt als die Hunde in den Hinterhöfen. Wie alle Amerikaner fürchtet auch sie, die bereits unten ist, dass es noch weiter hinab gehen könnte. Die Suche nach dem Vater bekommt damit eine existenzielle Dringlichkeit, die die Geschichte von Anfang an faszinierend macht.
So gelungen die Darstellung dieser Welt ist, auch dank des Einsatzes von lokalen Laiendarstellern, rächt sich der fehlende Einsatz filmischer Mittel nach einer Weile. Denn man fragt sich bald, warum Ree nur auf eine Mauer aus Schweigen stößt, was es mit den rätselhaften Männern auf sich hat, mit denen ihr Vater gesehen wurde, und ahnt wie seine Tochter, dass ihre Suche zu einem schmerzhaften Ergebnis führen wird. Gleich zu Beginn fällt ein bemerkenswerter Satz: In den Ozarks haben alle mit Drogen zu tun, sie konsumieren sie, um ihren deprimierenden Lebensumständen zu entkommen, sie produzieren sie, weil es sonst keine Arbeit gibt, mit der sie Geld verdienen können. Und es ist eine reine Männerwelt. Da Ree eine Frau ist, darf sie nichts darüber wissen, und selbst die Frage nach dem Verbleib des Vaters ist eine nicht zu unterschätzende Gefahr.
Das spürt man, möchte aber trotzdem mehr wissen. Die vielen Andeutungen und flüchtigen Hinweise sind zu wenig, um die Neugier des Zuschauers zu befriedigen, und Ree kann und darf nicht intensiver nachforschen. Selbst ihre zögerlichen Versuche muss sie teuer bezahlen. Jennifer Lawrence meistert diese schwierige Aufgabe so bravourös, dass es fast beängstigend ist. Sie wirkt gleichzeitig unschuldig, gerissen, klug, draufgängerisch, rotzig-frech und ungeheuer verwundbar. Eine Meisterleistung.
Alles in allem kein Wohlfühlfilm. Stellenweise ist er so deprimierend wie die Welt, in der er spielt, manchmal zieht er sich wie ein ereignisloser Nachmittag auf dem Lande, dann wieder überrascht er mit Szenen von ungeheurer Intensität. Eine merkwürdige Mischung.
Note: 3+