Nachdem ich A Most Wanted Man gesehen hatte, dachte ich mir, ich bleibe bei dem Spionagegenre treu und sehe mir Red Joan (Originaltitel) an. Hier spielt Judi Dench eine ehemalige Agentin, die Jahrzehnte nach dem Ende ihrer Karriere enttarnt wird. Der Film ist bei Netflix abrufbar.
Geheimnis eines Lebens
Joan Stanley (Judi Dench) ist eine pensionierte Bibliothekarin Anfang 80, die zurückgezogen in einem kleinen Haus in England lebt. Eines Tages steht die Polizei vor der Tür, um sie zu verhaften. Im Nachlass eines bekannten Politikers (Freddie Gaminara) wurden Dokumente gefunden, die nahelegen, dass Joan zu einem russischen Spionagenetzwerk gehörte, das in der 1940er Jahren Geheimnisse des britischen Atomforschungsprogramms an die UdSSR verraten hat.
Wer – wie ich – erwartet, Judi Dench einmal mehr in der Hauptrolle eines Films brillieren zu sehen, dürfte ein wenig enttäuscht werden, denn sie taucht nur in der Rahmenhandlung des Films auf. Man sieht, wie sie von den Beamten verhört wird, die sie mit ihren Beweisen konfrontieren, sie muss sich mit ihrem Sohn und Anwalt Nick (Ben Miles) auseinandersetzen, der mit einem Mal nicht mehr weiß, wer seine Mutter eigentlich ist, und sich zuletzt der sensationslüsternen Presse stellen. Alles in allem hat sie eine Handvoll Szenen und nur wenige markante Auftritte.
Der Großteil der Geschichte spielt zwischen 1938 und ca. 1950 und handelt von der jungen Joan (Sophie Cookson), die in Cambridge Physik studiert und später zum britischen Wissenschaftsteam gehört, das am Bau der Atombombe forscht. Noch als Studentin lernt sie die lebenslustige Exil-Russin Sonya (Tereza Srbova) kennen, die eine ihrer engsten Freundinnen wird, und verliebt sich in deren Cousin Leo (Tom Hughes). Leo ist Mitglied einer sozialistischen Studentengruppe und lässt sich im Krieg von den Russen als Spion anwerben.
Das Interessanteste an der Story ist allerdings Joans Arbeit im Forschungsteam, ihr Bestreben, sich mit Fachwissen und Kompetenz einen Namen zu machen, ihr zunächst kollegiales, dann freundschaftliches Verhältnis zu ihrem Chef (Stephan Campbell Moore), in den sie sich schließlich verliebt. Dass sie als Frau immer an den Rand gedrängt und zum Teekochen abgestellt wird, ist zunächst amüsant, später empörend und wirft sowohl ein Schlaglicht auf die Benachteiligung von Frauen in der Wissenschaft als auch auf die Gesellschaft ganz allgemein.
Natürlich hat man das so oder so ähnliche bereits gesehen, etwa in Hidden Figures. Regisseur Trevor Nunn fügt dem Sujet nicht wirklich etwas Neues hinzu, und auch die an sich recht spannende Geschichte über Liebe und Verrat gerät ihm viel zu leidenschaftslos. Was schade ist, denn sie hat eine Menge Potential. Faszinierend ist vor allem das beiläufige Porträt von Sonya, die als freigeistiges Gegenstück zu Joan erscheint und den Zuschauer das eine oder andere Mal überrascht. Sie hat jedenfalls den interessanteren Charakter.
Dagegen bleibt Joan erstaunlich blass. Immerhin kann man gut verstehen, warum sie zur Verräterin geworden ist, auch wenn sie ihre Gründe so häufig vorträgt, dass man das Gefühl bekommt, sie sei sich vielleicht selbst nicht so ganz sicher. Ihre Argumentation stammt von Melita Norwood, einer KGB-Spionin in Großbritannien, deren Leben und Arbeit Jennie Rooney inspiriert haben, die fiktive Geschichte von Joan als Roman zu erzählen.
Alles in allem eine zu harmlos erzählte Spionagegeschichte aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs, aus der man mehr hätte machen können. Doch das Schicksal der jungen Joan berührt und unterhält einen immerhin so gut, dass man gerne einen Abend mit ihr verbringt.
Note: 3