Slow West

Auch wenn die Temperaturen steigen und das Wetter uns nach draußen lockt, sind wir weitgehende Gefangene unserer vier Wände. Wohl dem, der einen Garten oder Balkon hat. Verschiedene Medien empfehlen mittlerweile lange Filme wie Vom Winde verweht oder Der englische Patient, für die man nun endlich Zeit hat, andere lieber Serien zum Binge-Watchen. Ich denke, anstelle von einem langen Film kann man sich auch zwei kurze ansehen – und einen hab ich neulich gefunden, der mir gut gefallen hat. Er hat nur 80 Minuten …

Slow West

Der schottische Adelige Jay (Kodi Smit-McPhee) schlägt sich allein durch die Wildnis Amerikas, um seine große Liebe Rose (Caren Pistorius) zu finden. Unterwegs trifft er den Revolverhelden und Kopfgeldjäger Silas (Michael Fassbender), der ebenfalls ein Interesse hat, die junge Frau und ihren Vater (Rory McCann) ausfindig zu machen, denn auf ihre Ergreifung wurde eine hohe Belohnung ausgesetzt …

Von Anfang an weiß man als Zuschauer, dass der naive, träumerische Jay keine Chance hat, allein im Wilden Westen zu überleben. Auch Silas wundert sich, dass er so weit gekommen ist, weshalb er sich Jay als Führer andient und ihm sein gesamtes Geld abluchst. Darüber hinaus erfährt der Zuschauer schon bald, dass er seine eigenen Absichten verfolgt und Jay nur benutzt, um die gesuchte Rose und ihren Vater zur Strecke zu bringen.

Jay ist der tumbe Narr, der sich auf eine Reise begibt, auf der er mehr über das Leben lernt und entweder daran zugrunde geht oder über sich hinauswächst. Figuren wie diese gibt es einige in der Literatur und im Film, eines der bekanntesten Beispiele ist Forest Gump. Alle Figuren, denen Jay begegnet, sind in gewisser Weise Gegenentwürfe zu seiner eigenen Naivität und Unerfahrenheit. Und nahezu jeder versucht, ihn irgendwie zu übertölpeln oder auszunutzen, so dass die Feindseligkeit seiner Umgebung schließlich auch Jays Unschuld korrumpiert. So wird aus Jay eine tragische Gestalt.

Der Wilde Westen, den Regisseur und Autor John Maclean hier schildert, sieht zwar so verführerisch schön aus, dass er sämtliche Genre-Klischees zu bedienen scheint – die Landschaft, die endlose Weite, die Sterne! – sie aber gleichzeitig auch ad absurdum führt. Jay ist der Zuschauer einer Travestie dessen, was sich der romantische, europäische Leser seiner Zeit über den Westen vorstellt. Entsprechend erweist sich sein „Reiseführer“ in die Wildnis auch schon bald als vollkommen nutzlos. Der Genozid an den indianischen Ureinwohnern wird dabei so beiläufig erzählt wie der Niedergang des Banditentums, deren Vertreter nur noch an der eigenen Legendenbildung interessiert sind, bevor sie von der Bühne der Geschichte abtreten müssen.

Dieser Neo-Western ist eine makabre, bittersüße Komödie über die Absurdität des menschlichen Daseins, gespickt mit zynischen Kommentaren und wunderbaren Miniaturen. Jay begegnet glücklosen Räubern, ehemaligen Sklaven, räuberischen Pionieren und ziellosen Pistoleros, und daraus ergeben sich unterhaltsame Episoden, die sich zwar nicht zu einer prallen Geschichte zusammenfügen, aber jede für sich gelungen sind. Erst ganz zum Schluss, wenn Jay endlich sein Ziel erreicht und allen Widerständen getrotzt hat, verwandelt sich der Film doch noch in einen reinrassigen Western mit einem klassischen Shoot-out und einem zynischen Ende, das man sich zwar nicht gewünscht hätte, das aber gut zum Rest der Geschichte passt.

Wunderschön fotografierte, eigenwillige Genremischung, die überraschend lange in Erinnerung bleibt.

Note: 3+

 

An dieser Stelle verabschiede ich mich in eine kurze Osterpause und wünsche allen Leser entspannte Feiertage und weiterhin viel Geduld im Lockdown. Bleibt gesund!

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Über Pi Jay

Ein Mann des geschriebenen Wortes, der mit fünfzehn Jahren unbedingt eines werden wollte: Romanautor. Statt dessen arbeitete er einige Zeit bei einer Tageszeitung, bekam eine wöchentliche Serie - und suchte sich nach zwei Jahren einen neuen Job. Nach Umwegen in einem Kaltwalzwerk und dem Öffentlichen Dienst bewarb er sich erfolgreich an der Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg. Er drehte selbst einige Kurzfilme und schrieb die Bücher für ein halbes Dutzend weitere. Inzwischen arbeitet er als Drehbuchautor, Lektor und Dozent für Drehbuch und Dramaturgie - und hat bislang fünf Romane veröffentlicht.