Diese Zeiten des gezwungenen Innehaltens und Zurückziehens vom öffentlichen und sozialen (realen) Leben gehen Hand in Hand mit einer gewissen Niedergeschlagenheit. Einige Psychologen beschreiben sie inzwischen als Trauer um eine Welt, die uns im Moment versagt ist oder die wir verloren glauben. Man könnte auch von nostalgischer Sehnsucht nach unserem bisherigen Alltag sprechen. Wer weiß, wie stark sich diese Gefühle noch bemerkbar machen, wenn wir vier oder mehr Wochen Ausgangssperre hinter uns haben?
Nostalgie kann aber auch eine feine Sache sein. Viele Leute, die ich kenne, sehen sich gerade verstärkt Filme und Serien ihrer Kindheit an – vielleicht auch mit dem Gedanken, dass das Leben damals unbekümmerter und heiler war. Bei mir stand schon lange ein Film auf meiner Netflix-Watchlist, den ich einmal wiedersehen wollte, und wann wäre ein besserer Zeitpunkt dafür als jetzt?
Zwischen den Zeilen
Helene Hanff (Anne Bancroft) ist eine amerikanische Schriftstellerin, deren Passion die non-fiktionale britische Literatur des 19. Jahrhunderts oder früher ist. Da sie in New York nur wenige dieser Bücher findet oder sie sich nicht leisten kann, schreibt sie 1949 an eine kleine Buchhandlung in London. Dort bekommt sie die Titel zu günstigen Preisen und beginnt alsbald eine Brieffreundschaft mit dem Geschäftsführer Frank Doel (Anthony Hopkins), die sich schließlich auch auf andere Angestellte und Franks Frau (Judi Dench) ausweitet. Über mehr als ein Jahrzehnt schreiben sie einander, tauschen sich über ihre Leben, ihre Ansichten zu Kunst und Literatur aus – und planen immer wieder ein persönliches Treffen.
Eines sollte man vorwegschicken: Wenn man nicht bibliophil ist oder wenigstens einiges Interesse an dem profanen Leben im London und New York von den späten Vierzigern bis zu den frühen Siebzigern hat, braucht man sich den Film nicht anzusehen. Es gibt keine klassische Geschichte, keinen nennenswerten dramatischen Bogen, keine tiefgreifenden Veränderungen bei den Figuren, nichts, was sonst einen Film ausmacht.
Stattdessen lernt man eine Handvoll Menschen kennen, folgt ihren alltäglichen Geschäften, sieht, wie sie ihre Kinder großziehen, Krankheiten, Verluste und Veränderungen meistern – und sich an Büchern erfreuen. Herz und Seele des Films ist Helene, eine warmherzige, kluge, ungeheuer belesene und auch eigenwillige Frau mit einem bissigen Sinn für Humor. Zwischen ihr und Frank entspinnt sich eine intellektuelle Romanze, die von feinsinniger Ironie und der gemeinsamen Leidenschaft für seltene Bücher befeuert wird.
Der Film basiert auf einem Theaterstück, welches nach dem originalen Briefwechsel entstand, den Hanff 1970 veröffentlichte. Entsprechend ist die Umsetzung auch wenig filmisch. Die meisten Dialoge sind Auszüge aus den Briefen als Off-Kommentare, die Bildern haben bisweilen sogar dokumentarische Züge, und manchmal sprechen die Beteiligten sogar in die Kamera. Dennoch wohnt der Geschichte von Anfang an ein besonderer Zauber inne, dem man sich nicht entziehen kann. Man spürt die Authentizität der Figuren, kann sich ein gutes Bild von der Situation im England der Nachkriegszeit machen, die von Einschränkungen und Rationierungen geprägt ist und in der ein Care-Paket aus den USA wie ein Geschenk des Himmels wirkt. Das Leben damals wirkt stiller, bescheidener und gemächlicher und weckt dadurch eine Sehnsucht nach dem Einfachen oder vielleicht auch nach der guten alten Zeit. Die meistens weder das eine noch das andere war.
Insgesamt ein ungewöhnlicher, warmherziger und anheimelnder Film, der mit Sicherheit nicht jedermanns Geschmack ist und heute auch nicht mehr gemacht würde. Mir gefällt er immer noch.
Note: 2