Überschwängliche Kritiken und vier Oscarnominierungen können nicht täuschen, oder doch? Schon der Roman von André Aciman war ein großer Kritikererfolg, weshalb ich ihn irgendwann einmal gelesen habe, allerdings gestehen muss, dass er mir nicht gefallen hat. Die Story ist dünn, die Handlung schleppt sich endlos dahin, und auch die Figuren waren wenig überzeugend. Dafür war das Buch exzellent geschrieben. Solchermaßen enttäuscht, hat mich der Film nicht interessiert, und daran konnten auch die Nominierungen nichts ändern. Doch inzwischen ist er bei Netflix gelandet, so dass ich wenigstens einmal reinschauen wollte, um zu sehen, ob der Hype gerecht ist.
Call Me By Your Name
Jedes Jahr nimmt Professor Perlman (Michael Stuhlbarg) einen Studenten in seinem Haus auf, der ihm bei seinen archäologischen Studien hilft. Im Sommer 1983 ist es der Amerikaner Oliver (Armie Hammer), der in das Haus der Perlmans in Norditalien zieht, um mit der Familie den Sommer zu verbringen. Elio (Timothée Chalamet), der 17jährige Sohn des Professors, verliebt sich in den älteren Mann …
Spätestens seit Brokeback Mountain tauchen immer wieder einmal queere Liebesgeschichten im Mainstreamkino auf, und das ist auch gut so. James Ivory, der das Drehbuch zu Call Me By Your Name schrieb und dafür einen Oscar erhielt, hat 1987 mit Maurice bereits eine relativ ähnliche Geschichte vorgelegt.
Wie in der Romanvorlage passiert in Call Me By Your Name wenig. Das Leben auf dem Land geht auch in Italien einen gemächlichen Gang, man genießt die Früchte des Gartens, trinkt guten Wein, liest bedeutende Bücher, spielt klassische Musik und führt gelehrte Diskussionen. Das Umfeld, in dem Elio aufwächst, ist das des klassischen Bildungsbürgertums, entsprechend spricht der Junge drei Sprachen fließend, transkribiert in seiner Freizeit Musik und ist weit über sein Alter hinaus gebildet.
Doch seiner Weltgewandtheit zum Trotz hat Elio auch einige kindliche Seiten, wirkt unschuldig und neugierig. Chalamet spielt diese Balance ausgesprochen überzeugend, ebenso seine Faszination für Oliver, die allmählich in Begierde und schließlich Zuneigung umschlägt. Es ist interessant, ihm zuzusehen, wie er langsam die Grenzen des Erwachsenwerdens überschreitet. Insofern ist Call Me By Your Name ein typisches Coming-of-Age-Movie.
Da der gesamte Film aus Elios Perspektive erzählt wird, betrachten wir Oliver nur durch seine Augen. Der Amerikaner ist sehr offen, von zupackender Energie und bisweilen auch ruhelos, somit ein Fremdkörper in dem beschaulichen Haushalt der Perlmans. Für Elio bleibt er ein Geheimnis, da er immer wieder verschwindet und sich seinen schüchternen Annäherungsversuchen entzieht.
Die erste Stunde des Films passiert – gar nichts. Sicher, man lernt die Figuren kennen, erkennt, dass Elio sich zu Oliver hingezogen fühlt, aber es gibt keine Entwicklung, keinen Konflikt, keine Ereignisse. Dafür besticht Regisseur Luca Guadagnino mit schönen Bildern und einer dichten Atmosphäre. Seit Éric Rohmer hat wohl niemand mehr so gekonnt einen langen, vertrödelten Sommer eingefangen.
Mit dem Beginn der Liebesbeziehung bekommt der Film schließlich eine neue Dynamik, bevor er dann relativ schnell auf sein vorhersehbares Ende zusteuert. Auch dieses vollzieht sich still und eher beiläufig, hinterlässt aber Spuren in den Figuren und dem Zuschauer.
Guadagnino schafft es, die Qualen der ersten Liebe sichtbar zu machen und auf die große Leinwand zu bringen, die Darsteller sind überzeugend, die Stimmung superb. Ein (überraschend) gelungener Film.
Note: 3+