Martin Scorsese hat sich kürzlich über die zahllosen Comic-Verfilmungen Hollywoods ausgelassen und darüber gelästert, dass diese in seinen Augen kein Kino mehr seien. Wenn ich mich recht entsinne, hat er das daran festgemacht, dass für die Helden dieser Geschichten emotional nichts auf dem Spiel steht, sie riskieren nichts und entwickeln sich auch nicht weiter, weil sie schließlich für eine Reihe konzipiert wurden und der Zuschauer in ihnen eine charakterliche Konstante braucht. Das ist durchaus richtig und hat mit dem Ursprung dieser Charaktere in der Fortsetzungswelt der Comics zu tun, in der die Figuren sich nicht verändern – bis sie plötzlich in einer neuen Reihe eine neue Inkarnation erleben und dabei teilweise sogar ihr Geschlecht wechseln.
Die Kritik ist allerdings ein Stück weit ungerecht, weil es diese Art von Charaktertypen auch früher schon gegeben hat – James Bond ist das beste Beispiel dafür. Scorsese hat aber insofern Recht, dass diese Art von Film in den letzten Jahren zur dominierenden Spezies in Hollywood avanciert ist. Diese Blockbuster geben den Ton an, setzen neue Maßstäbe an den Kassen – und verschlingen den Großteil der Studio-Budgets. Das Kino, mit dem Scorsese groß geworden ist, bleibt dagegen auf der Strecke und wird zur schwer finanzierbaren Arthaus-Liebhaberei.
The Irishman, könnte man sagen, ist das beste Beispiel dafür. Scorsese wollte noch einmal einen großen Gangsterfilm drehen, ein weiteres Mafia-Epos à la GoodFellas – Drei Jahrzehnte in der Mafia, nur diesmal aus der Sicht eines siechen Profikillers. Ein vielleicht letzter großer Beitrag des New Hollywood, bevor es endgültig vom Spektakel-Kino unserer Zeit abgelöst wird. Nur leider wollten die Bosse in Hollywood diesen Film nicht finanzieren. Dass Scorsese ausgerechnet in Netflix, einem der viel geschmähten Totengräber des Kinos, einen Geldgeber gefunden hat, ist daher schon bittere Ironie. Natürlich musste Scorsese für diese Allianz auf einen regulären Kinoeinsatz verzichten, wohl wissend, dass der Film dadurch keine Chance auf einen Erfolg an den Kassen haben würde. Aber was tut man nicht alles für die Kunst?
So ist The Irishman im Kontext von Scorseses Abrechnung mit den Comicverfilmungen und der Debatte über die Zukunft des Kinos schon vor Start einer der wichtigsten Filme des Jahres geworden, der viel über die Umbrüche in der Branche aussagt. Und wie es der Zufall oder das Schicksal so will, kam wenige Monate zuvor mit Joker die unerwartete Beinahe-Antwort auf Scorseses Vorwürfe in die Kinos und führte sie ad absurdum. Denn Joker nimmt eine Figur aus dem Kanon der Comic-Helden bzw. -Bösewichter und erzählt ihre Geschichte ausgerechnet im Stil eines frühen Martin Scorsese. Und die bittere Ironie für den Altmeister ist, dass er dies auch noch ausgesprochen erfolgreich macht.
Aber zurück zu Scorseses jüngstem Film. Wie ist er denn so geworden? Ich fürchte, ich werde ein wenig spoilern müssen. Wer den Film noch nicht gesehen hat und sich überraschen lassen möchte, wie er ausgeht (was allerdings sehr vorhersehbar ist), sollte hier vielleicht nicht weiterlesen.
The Irishman
Frank Sheeran (Robert De Niro) resümiert in einem Altersheim über sein Leben, besonders über seine Karriere in der Mafia. Der Ire war einer der Hitmen des Bufalino-Clans und hat über die Jahre hinweg viele Gegner hingerichtet. Angefangen hat er in den Fünfzigern, als Sheeran als LKW-Fahrer hin und wieder Rinderhälften an eine Mafia-Größe geliefert und dadurch zufällig Russell Bufalino (Joe Pesci) kennengelernt hat. Russell nimmt Frank unter seine Fittiche und vermittelt ihn Jahre später an den Gewerkschaftsboss Jimmy Hoffa (Al Pacino), der bald Sheerans bester Freund wird. Dank Hoffa macht Frank auch Karriere in der Gewerkschaft, die eng mit der Mafia verbandelt und in allerlei dubiose Geschäfte verstrickt ist …
Es ist müßig, hier den ganzen Film nachzuerzählen, denn er besteht aus zahllosen kleineren und größeren Episoden. Herzstück der Story ist die Freundschaft zwischen Hoffa und Sheeran, die mit dem Untergang des Gewerkschaftsbosses tragisch endet. Da Sheeran eine reale Person war, deren Geschichte bekannt ist, weiß man, dass er am Ende seines Lebens den Mord an Hoffa zugegeben hat, dessen Verschwinden zu den großen amerikanischen Rätseln des 20. Jahrhundert gehört.
Leider konzentriert sich Steven Zaillian in seinem Drehbuch nicht auf diesen Aspekt in Sheerans Leben, sondern holt weit aus. Es gibt sogar Rückblenden in Franks Jugend, als er als Weltkriegssoldat in Italien deutsche Gefangene exekutiert hat. Darüber hinaus erfahren wir, wie er als Ire zur italienischen Mafia kam. Hauptsächlich dank seiner Italienischkenntnisse und der Tatsache, dass er dem Oberhaupt der Bufalino-Familie an einer Raststätte begegnet ist und dieser ihm bei einer Autopanne geholfen hat. Das sind in der Tat nette Anekdoten, die man vielleicht in Rückblenden hätte erzählen können, die es aber nicht unbedingt gebraucht hätte für die Geschichte.
Das ist Scorseses Problem: Er will zu viel. Er lässt Sheeran über die Mafia plaudern, über ihre schillernden Mitglieder (wobei jeweils eingeblendet wird, welchen – meist grausigen – Tod sie sterben werden) und ihre Differenzen. So wird Frank zu einem kauzigen Opa, der nicht aufhören will, über alte Zeiten zu schwadronieren. Sheeran quatscht mit seinen Off-Kommentaren den Film über manche Strecken hinweg schlichtweg tot und erzählt dem Zuschauer mitunter sogar, was er gerade sieht. Das ist ungemein ermüdend und erzähltechnisch eines Scorsese unwürdig.
Überhaupt wirkt der Film seltsam untypisch für Scorsese. Er hat keine eleganten Bilder und nur ganz selten eine der Kamerafahrten, für die er mal berühmt war. Michael Ballhaus wird hier noch schmerzlicher vermisst als in den letzten Filmen Scorseses. Der Look wirkt merkwürdig stumpf, imitiert teilweise die Filme ihrer Zeit, kommt aber dennoch über ein Kammerspiel kaum hinaus. Man sieht vor allem Leute in dunklen Büros oder Restaurants miteinander reden. Warum war der Film also so ungemein teuer?
Eine Erklärung hat mit der digitalen Verjüngung seiner Hauptdarsteller zu tun. Früher musste man sich mit Masken oder dem Einsatz jüngerer Schauspieler begnügen, heute kann man einen Akteur problemlos am Rechner um Jahrzehnte jünger machen. So blickt man zwar in die faltenfreien Gesichter De Niros und Pescis, die in manchen Einstellungen allerdings so künstlich wirken wie die Figuren eines Videospiels. Warum musste Scorsese unbedingt mit ihnen drehen? Wäre es nicht sinnvoller (und günstiger) gewesen, jüngere Schauspieler zu nehmen und diese mit Hilfe von Masken altern zu lassen? Gab es keine anderen Geschichten, die es gelohnt hätten, die alte Truppe noch einmal zusammenzutrommeln?
Dass der Film so teuer geworden ist, liegt aber auch an zu vielen Einstellungen und ausschmückenden Details, von denen viele völlig überflüssig sind. Einmal wird beispielsweise für eine einzige Szene eine Figur eingeführt, die denselben Namen trägt wie eine andere, im Film nie auftauchende Figur, die von der Mafia exekutiert wurde. Dazu sieht man, wie diese zweite Person in ihrem Auto in die Luft gesprengt wird. Hätte man auf diese Erklärung verzichtet, hätte man viel Geld und Zeit sparen können. Es wird wohl ein Rätsel bleiben, warum Scorsese und Zaillian sich nicht stärker auf ihre eigentliche Geschichte konzentriert und alles Überflüssige gestrichen haben.
Sheeran und Hoffa, das ist eine durchaus fesselnde Story über Freundschaft und Verrat, über die Macht der Mafia und der Gewerkschaften in den Sechzigern und Siebzigern und ihren Einfluss auf die amerikanische Politik. So wirft Scorsese ein Schlaglicht auf die Präsidentschaft Kennedys, entzaubert seinen Mythos und liefert mehr oder weniger subtil eine Erklärung für dessen Ermordung. Das ist zwar nicht neu, aber gut gemacht und schön erzählt. Großartig ist vor allem Pacino als Jimmy Hoffa, der polternd jede Szene an sich reißt, die besten Dialoge bekommt und seine Figur so farbenfroh zum Leben erweckt, dass es eine Freude ist, ihm dabei zuzuschauen.
Verglichen mit ihm gleitet De Niro beinahe teilnahmslos durch Sheerans Leben. Wie ein Forrest Gump der Mafia begegnet er all den bedeutenden Unterweltgrößen und gerät schließlich ins Zentrum eines der bedeutendsten Verbrechen seiner Zeit. Doch weder Zaillian noch Scorsese oder De Niro gelingt es, beim Zuschauer großes Interesse an dem Hitman zu wecken. Der Titel des Buches, das Charles Brandt über Frank Sheeran geschrieben hat und das die Vorlage des Drehbuchs ist, lautet I Heard You Paint Houses, was laut Legende das Erste ist, das Hoffa zu Sheeran sagt und sich auf die Tatsache bezieht, dass Sheeran beim Erschießen seiner Opfer deren Blut auf den Wänden verteilt. So stellt sich unwillkürlich die Frage, wie ein Mann wie Sheeran zu einem berüchtigten Mafia-Killer werden konnte, der bis zu 30 Morde begangen haben soll, und was diese Tatsache aus ihm macht. Die Antwort bleibt uns Scorsese weitgehend schuldig.
Das Töten, so erfahren wir nur, hat Sheeran im Krieg gelernt. Am Ende des Films sieht man, wie er sich zusammen mit einem Priester auf den Tod vorbereitet. Wie er selbst seinen Sarg und seine Grabstelle aussucht, weil er völlig allein und von seiner Familie entfremdet ist. Ein trauriger alter Mann. Wer hätte das erwartet? Es hat durchaus etwas Rührendes, wenn Frank den Priester bittet, die Tür einen Spalt offen zu lassen, als wäre er ein Kind, das Angst vor der Dunkelheit hat. Vielleicht fürchtet er auch einen Hinterhalt. Dabei ist er der Letzte seiner Generation, das letzte noch lebende Mitglied der Mafiariege.
Gerade über Sheerans Familie hätte man wunderbar zeigen können, was ein Leben für die Mafia mit der Seele eines Menschen macht. Dass die „Familia“ eben nicht die eigene Familie ersetzen kann und der Beruf weder dazu taugt, enge Bindungen aufzubauen, noch, einen ruhigen Lebensabend zu erwarten. Ansatzweise versucht Scorsese das sogar, indem er das Verhältnis Sheerans zu seiner Tochter Peggy (als Erwachsene: Anna Paquin) skizziert – was leider gründlich schief geht.
Peggy beobachtet schon als kleines Mädchen misstrauisch, wie ihr Vater sich in einen gewalttätigen Fremden verwandelt, der einen Mann brutal verprügelt, weil er sie versehentlich geschubst hat. Ihre Angst vor Sheeran, noch mehr aber vor Russell wird ihr als Schüchternheit ausgelegt. Später bricht sie mit ihrem Vater, weil sie ihm den Tod Hoffas, den sie sehr mochte, nicht vergeben kann. All das hätte ein wunderbares psychologisches Drama abgegeben, aber hier versagt Scorsese leider komplett. Die Frauen kommen hier so schlecht weg wie vielleicht in keinem anderen Film dieses Jahres, sie werden auf ihre bloße Existenz reduziert, als wären sie lediglich ein Teil der Ausstattung. Das ist geradezu schmerzhaft anzusehen und frauenfeindlich. Dass Scorsese auch anders kann, hat er etwa in Zeit der Unschuld bewiesen, ihm Misogynie zu unterstellen, wäre daher vermessen.
Schon in GoodFellas – Drei Jahrzehnte in der Mafia hat sich Scorsese an einem Sittenbild der Fünfziger bis Siebziger anhand des Lebens eines Mobsters versucht. Mit wesentlich besserem Ergebnis. The Irishman ist insofern tatsächlich ein Alterswerk, als es die Schwächen der Älteren offenbart, die weder auf der Höhe der Zeit erzählen noch an ihre Verve von früher anknüpfen können, sich dafür aber in teilweise belanglosen Anekdoten verlieren. Der Film sollte ein Schwanengesang sein, ein Abgesang auf die Mafia-Filme von früher und dafür noch einmal all die großen Schauspieler, mit denen Scorsese früher gearbeitet hat, vor der Kamera vereinen. Ungewollt wurde er aber auch eine Elegie auf das New Hollywood und den weißen (inzwischen ganz schön alten) Mann. Der Film hat zwar einige Qualitäten und eine Handvoll wirklich guter Szenen, versteht aber weder mit seinen Figuren noch mit einer spannenden Geschichte zu punkten. Scorsese wird seinen eigenen Ansprüchen damit leider nicht gerecht.
Note: 3