Das böse Hollywood, die bösen Kinos und das gute Netflix?

So oder so ähnlich hat man das in den letzten Jahren oft lesen können: Die bösen Hollywood-Studios wollten Martin Scorseses neuen Film The Irishman nicht finanzieren, aber dann kam Netflix als weißer Ritter bzw. Retter ins Spiel, genehmigte seinem 3 1/2 Stunden-Film ein $159 Mio.-Budget und versprach dem Oscar-Gewinner sogar eine „normale“ Kinoauswertung…

Nun, ich habe endlich The Irishman gesehen und kann jetzt voll und ganz verstehen, warum die Studios den Film nicht finanziert haben… Wäre ich Studio-Boss, hätte ich zu Scorsese gesagt: „Lieber Marty, schön, dass du die alte Gang wieder zusammenbringen willst, hier hast du $40 Mio. und nun mach einen tollen Film draus.“ Aber $159 Mio. hätte ich niemals bewilligt, denn die wären nie und nimmer wieder eingespielt worden…

Und ich bin felsenfest davon überzeugt, dass mit dem niedrigeren Budget auch ein besserer Film entstanden wäre…

I. Der Film

Herzstück des Films ist die Beziehung von Frank Sheeran (Robert De Niro) und Jimmy Hoffa (Al Pacino), die aber nur etwa zwei Stunden des 3 1/2 Stunden-Films ausmacht. In den gemeinsamen Szenen erwacht der Film zum Leben – auch Dank eines großartig aufgelegten Pacino, dem ich eine Oscar-Nominierung als bester Nebendarsteller gönnen würde. In den übrigen 1 1/2 Stunden bekommen wir einen gänzlich anderen Film zu sehen, den Pi Jay in seiner morgigen Kritik so treffend als „Forrest Gump (De Niro) in der Mafia“ beschreibt.

Einen beträchtlichen Teil des Budgets hätte man also einsparen können, wenn sich Scorsese auf den Hauptstrang konzentriert hätte. Außerdem fiel mir bei Sichtung des Films so manches Mal auf, dass man einige Szenen auch wesentlich günstiger hätte schreiben (und somit inszenieren) können, ohne dass die Geschichte darunter gelitten hätte.

Viel Geld hätte man sich auch sparen können, wenn Scorsese für die Szenen in der Vergangenheit andere (jüngere) Schauspieler genommen hätte, anstatt mit teuren Spezialeffekten für das „de-agen“ zu sorgen. In meinen Augen gibt es schlechtes De-aging (prominentes Beispiel Tron Legacy) und gutes De-Aging (bestes Beispiel Ant-Man). Und leider hat man für das falsche De-Aging bezahlt…

Es ist nun mal so, dass im Alter die Gesichter breiter und fülliger werden, und da Jeff Bridges und Robert De Niro schon lange im Geschäft sind, wissen wir, wie sie vor vierzig Jahren ausgesehen haben (als sie noch schmale Gesichter hatten). Leider hat man das nicht berücksichtigt, und so hat der „junge“ Jeff Bridges in Tron Legacy ein wesentlich breiteres junges Gesicht als in Tron. Und der „junge“ De Niro sieht in Irishman wesentlich fülliger im Gesicht aus als z.B. in Taxi Driver. Dass es auch besser geht, sieht man in den Ant-Man-Filmen, in denen der „junge“ Michael Douglas tatsächlich so aussieht, wie Michael Douglas aussah, als er ein paar Jahrzehnte jünger war.

Zweites Problem beim De-Aging und das können CGI-Effekte einfach nicht kaschieren: De Niro und Joe Pesci waren beim Dreh ca. 75 Jahre alt und bewegen sich auch wie 75-jährige. Ganz klar, dass der De Niro aus Taxi Driver wesentlich agiler war…

Genauso wie Der weiße Hai ein besserer Film wurde, weil der mechanische Hai nicht funktioniert hat und Steven Spielberg deswegen mit der subjektiven Kamera tricksen musste, glaube ich, dass The Irishman ein besserer Film geworden wäre, wenn Scorsese nicht dieses Geld-spielt-keine-Rolle-Budget gehabt hätte…

Am erstaunlichsten fand ich übrigens die Tatsache, dass The Irishman so gut wie keine „Kinobilder“ liefert – das ist man von Scorsese ganz anders gewohnt, und so kann ich dem Film insgesamt nur die Note 3 geben.

II. Die Schurken

Kommen wir nun also zurück zum „bösen“ Hollywood. Das Filmgeschäft ist nach wie vor ein Geschäft. Man produziert Filme, um mit ihnen Gewinn zu erzielen. Jeder halbwegs vernünftige Mensch in der Branche weiß, dass ein $159 Mio.-Kinofilm The Irishman niemals Gewinne geschrieben hätte. Wenn Scorsese also nicht bereit war, eine abgespeckte Version zu inszenieren, kann man dies dann wirklich den Studios vorwerfen?

Das erinnert mich ein wenig an Lincoln. Steven Spielberg erzählte einmal, dass der $275 Mio.-Erfolg (bei einem $65 Mio. Budget) beinahe eine HBO-Produktion geworden wäre, da kein Studio bereit war, das Budget zu stemmen. Ich dachte mir damals nur: „Steven, dein Vermögen wird auf $3,7 Milliarden geschätzt – wenn das ein Herzblut-Projekt für dich ist, dann kannst du doch sicher 0,01 % deines Geldes nehmen, um die Finanzierungslücke zu schließen“…

Es gibt übrigens einen Regisseur und fünffachen Oscar-Preisträger, der mehrmals (!) bankrott gegangen ist, um seine Herzblut-Projekte zu finanzieren, und das ist Francis Ford Coppola. Da er aber als Finanzier vieler seiner Filme auch die Rechte an ihnen hält, wird sein Vermögen heute trotzdem auf $300 Mio. geschätzt…

Aber neben den Filmstudios wird in der Presse oft noch ein weiterer Schurke in der Irishman-Saga erwähnt: Die bösen Kinos, die den Film nicht spielen wollen. Und hier gilt es, ein großes Missverständnis aufzuklären:

Der Einfachheit halber beziehe ich die folgenden Zahlen auf Deutschland. Die deutschen Kinos bezahlen den Filmverleihern bis zu 53,5 % ihrer Ticket-Einnahmen für das Recht, einen Film vier Monate lang exklusiv auswerten zu dürfen (Kino-Fenster). Netflix hat sich zum Ziel gesetzt, dieses Kino-Fenster abzuschaffen.

Das Totschlag-Argument von Netflix ist, dass das Kino-Fenster den Konsumenten daran hindert, einen Film so zu sehen, wie er ihn sehen will. Mit der gleichen Begründung könnte man aber auch argumentieren, dass die Exklusivität der Netflix-Produkte den Konsumenten daran hindert, einen Film so zu sehen, wie er ihn sehen will. Schließlich gibt es ja auch Konsumenten, die einen Netflix-Film lieber bei Amazon Prime oder im Free TV sehen würden.

Würde es dazu kommen, dass alle Filme zeitgleich zum Kinostart gestreamt werden können, dürfte dies wohl für die allermeisten Kinos das Ende bedeuten und würde hauptsächlich in den kleineren und mittelgroßen Orten dafür sorgen, dass der Konsument gar nicht mehr die Möglichkeit hätte, irgendeinen Film auf der großen Leinwand zu sehen (von wegen freie Wahl einen Film so zu sehen, wie man ihn sehen will).

Es ist also wenig verwunderlich, dass viele Kinobesitzer schon aus Prinzip keine Netflix-Produktionen zeigen wollen – warum einen Konkurrenten unterstützen, der die eigene Existenz bedroht?

Aber The Irishman hatte ein Mini-Kino-Fenster (in den USA vier und in Deutschland zwei Wochen vor Streaming-Start). Dies ist hauptsächlich dem Umstand geschuldet, dass ein Film in den USA mindestens eine Woche in einem kommerziellen Kino zu sehen sein muss, um sich für die Oscars zu qualifizieren). Und da stellt sich natürlich folgende Verhandlungsfrage: Wenn die Kinos 53,5 % für ein 4 Monate-Fenster zahlen, was ist dann ein angemessener Prozentsatz für ein 2 Wochen-Fenster?

Und auch hier ist es wenig verwunderlich, wenn Kinobetreiber anderer Auffassung sind, was ein angemessener Prozentsatz ist und dann letztendlich auf einen Einsatz verzichten.

Mit anderen Worten: Es gibt viele unterschiedlichen Interessen, aber keine Schurken (ganz anders als im Film The Irishman).