Reise nach Indien

Unsere heutige Reise in die Filmvergangenheit führt uns zu einem Altmeister: David Lean ist vor allem für seine Epen Die Brücke am Kwai, Lawrence von Arabien und Dr. Schiwago bekannt. Sein letzter Film fristet dagegen eher ein Schattendasein. Ich habe ihn vor vielen Jahren einmal gesehen und war enttäuscht, Zeit also für eine Wiederbetrachtung.

Reise nach Indien

Adela (Judy Davis) reist in den 1920er Jahren als Begleiterin von Mrs Moore (Peggy Ashcroft) nach Indien, um dort deren Sohn Ronny (Nigel Havers) wiederzusehen und möglicherweise zu heiraten. Sie ist sich ihrer Gefühle jedoch nicht sicher und stellt mit Unbehagen fest, dass er in der Kolonie, in der er als Richter arbeitet, ein herrisches Wesen entwickelt hat. Auch Mrs Moore gefällt das nicht. Die beiden Frauen wollen unbedingt das wahre Indien und seine Bewohner kennenlernen, stellen jedoch fest, dass es nahezu unüberschreitbare kulturelle und ethnische Grenzen gibt. Als sie den liebenswerten Dr. Aziz (Victor Banerjee) kennenlernen, der die Briten bewundert, entwickelt sich ein freundschaftlicher Umgang. Bei einem Ausflug zu den Höhlen von Marabar kommt es jedoch zu einem Eklat: Adela kehrt zerkratzt und mit zerrissener Kleidung zurück und behauptet, Dr. Aziz habe versucht, sie zu vergewaltigen …

Reise nach Indien ist der erste von insgesamt fünf Romanen von E.M. Forster, die verfilmt wurden, allerdings der letzte, den er schrieb. Die Kritik Forsters am Kolonialismus und an der herablassenden, arroganten Verhaltensweise seiner Landsleute, die er auf seinen Reisen nach Indien und während seiner Tätigkeit als Privatsekretär eines Maharadschas selbst erlebt haben dürfte, greift David Lean in seinem Drehbuch auf und räumt ihr auch einigen Raum in seinem Film ein. Auch die Unabhängigkeitsbestrebungen der Inder werden kurz angerissen, aber kaum zu einem eigenen Thema weiterentwickelt; es scheint, als hätte Lean zwar die Herrenmenschen-Mentalität der Briten abgelehnt, mit dem Kolonialismus an sich aber weniger Probleme gehabt, denn die Darstellung der Inder ist bisweilen recht oberflächlich und klischeebeladen.

Lediglich Dr. Aziz kommt hier gut weg, er wird als anständig, fleißig und mustergültig beschrieben, aber auch als ein etwas zu unterwürfiger Bewunderer britischer Kultur und Lebensart. Daneben gibt es noch den Brahmanen und Professor Godbole (Alec Guinness), der zwar als Respektsperson angesehen, in seiner Verschrobenheit allerdings auch als komischer Kauz dargestellt wird. Guinness selbst beklagte später, dass es seine schlechteste Performance war, was nicht zuletzt auch daran liegt, dass große Teile seiner Rolle dem Schnitt zum Opfer gefallen sind. Dennoch ist diese Figur die bizarrste und am schlechtesten geschriebene des Ensembles, von der Besetzung eines Weißen einmal abgesehen.

Bei den Briten kommt neben den beiden weiblichen Hauptdarstellerinnen nur noch Fielding (James Fox), der Leiter der Schule, gut weg, denn er behandelt die Inder wie Gleichgestellte und nicht wie Untergebene. Er ist die moralische Instanz der Geschichte, die sich von einer Story über einen Selbstfindungsversuch zu einem Gerichtsdrama wandelt. Letzteres spielt aber nur eine unterordnete Rolle und findet dann ein abruptes und überraschendes Ende.

Leider ist dieser Handlungsstrang, der eng mit der Beschreibung von Adelas Charakter zusammenhängt, der am wenigsten überzeugende, weil er vieles andeutet, aber nichts explizit benennt. Lean arbeitet mit mehr oder weniger subtiler Symbolik, was durchaus gelungen ist, versäumt es dann aber, genauer auf Adelas Charakter und ihre Bedürfnisse einzugehen. So bleibt vieles oberflächlich und unnötig rätselhaft. Zum Teil dürfte das wohl dem Roman geschuldet sein, der 1924 erschien und sicherlich einige der angedeuteten Themen nicht explizit benennen durfte. Es ist schade, denn mit etwas mehr Mühe hätte man, auch ohne deutlicher zu werden, das faszinierende Porträt einer jungen Frau schildern können, die zwischen gesellschaftlichen Konventionen und ihrer sexuellen Natur zerrieben wird. Vielleicht wäre es ja Zeit für ein Remake?

Es ist ohnehin überraschend, wie altmodisch der Film wirkt. 1984 entstanden, sieht er eher aus wie ein Film aus den Fünfzigern und Sechzigern und steht Leans bekanntesten Werken näher als beispielsweise Amadeus, seinem größten Konkurrenten um die Oscars in jenem Jahr. Es sollte auch Leans letzter Film bleiben.

Opulent gefilmt und ausgestattet, voller exotischer Schauplätze und faszinierender Einblicke in die Welt des kolonialen Indiens, aber letztlich kein so überzeugendes Gesellschaftsporträt wie es hätte werden können.

Note: 3-

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Über Pi Jay

Ein Mann des geschriebenen Wortes, der mit fünfzehn Jahren unbedingt eines werden wollte: Romanautor. Statt dessen arbeitete er einige Zeit bei einer Tageszeitung, bekam eine wöchentliche Serie - und suchte sich nach zwei Jahren einen neuen Job. Nach Umwegen in einem Kaltwalzwerk und dem Öffentlichen Dienst bewarb er sich erfolgreich an der Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg. Er drehte selbst einige Kurzfilme und schrieb die Bücher für ein halbes Dutzend weitere. Inzwischen arbeitet er als Drehbuchautor, Lektor und Dozent für Drehbuch und Dramaturgie - und hat bislang fünf Romane veröffentlicht.