Raum

Mein Frühjahrsputz geht weiter. Es gibt immer noch so viele Filme auf meiner Festplatte, die ich endlich einmal anschauen sollte, dass ich Woche für Woche einen Beitrag darüber schreiben könnte. Darunter sind ältere Werke, die ich einmal wiedersehen möchte, aber auch einige jüngere, für die ich bislang nicht in der richtigen Stimmung war. Darunter eben auch …

Raum

Der fünfjährige Jack (Jacob Tremblay) lebt mit seiner Ma (Brie Larson) in einem kleinen Raum, den die beiden nie verlassen dürfen. Die Außenwelt nimmt der aufgeweckte Junge nur durch ein Oberlicht wahr und durch den Fernseher, glaubt aber, dass außerhalb ihres Raumes nichts Reales existiert. Seine Mutter wurde als Teenager von „Old Nick“ (Sean Bridgers) entführt und wird seither gefangen gehalten, sinnt aber seit jeher auf Flucht – die ihnen überraschenderweise eines Tages sogar gelingt …

Mit Natascha Kampusch fing es an, und dann gab es immer mehr Fälle von Frauen, die über viele Jahre hinweg von Männern entführt und in ihren Kellern oder – in diesem Fall – einem Schuppen gefangen gehalten werden. Für die Entführer ist dies ein Zeichen uneingeschränkter, ultimativer Macht, für ihre Opfer ist es die Hölle, ein Zustand permanenter Hilflosigkeit und Demütigung. Brie Larson spielt diese junge Frau mit geradezu stoischer Gelassenheit, lässt aber immer wieder spüren, wie unermesslich die Verzweiflung unter dieser ruhigen Oberfläche ist. Denn nach außen hin, für ihren Sohn, muss sie emotional stabil bleiben, ihm den Zustand von Normalität vermitteln, obwohl ihr Dasein in diesem Gefängnis, das für Jack die ganze Welt, sein Zuhause bedeutet, eine Tortur ist. Immer wieder verfällt sie daher in Depressionen, in denen sie auch für Jack unerreichbar ist.

Viel später – nach ihrer abenteuerlichen Flucht – wird sie gefragt, warum sie ihren Sohn nicht weggeben hat, um wenigstens ihm dieses Leben zu ersparen, um ihm eine normale Kindheit zu ermöglichen, und zerbricht beinahe an dieser Frage, die ein nur schlecht verheimlichter Vorwurf ist. So kreist die Geschichte um mehrere Fragen: Wie übersteht man diese vollkommene Isolation, ohne den Verstand zu verlieren? Wie findet man wieder zurück in das, was wir anderen Normalität nennen? Was macht eine glückliche Kindheit aus?

Da für Jack dieses Gefängnis die Normalität ist und Ma ihn in dem Glauben gelassen hat, dass außerhalb dieser Mauern nichts von Bedeutung existiert, dass sogar Old Nick vielleicht nur halb real ist, weil er mal da ist und dann wieder auf rätselhafte Art verschwindet, ist es für das Kind ein Schock, als es von der Welt „da draußen“ erfährt. Ein bisschen hat die Situation etwas von Platons Höhlengleichnis, mitunter erinnert sie auch an die Vertreibung aus dem Paradies, wenn seine Mutter sein Weltbild zerstört. Letzten Endes wird Jack ähnlich wie der Graf von Monte Christo in die Freiheit geschmuggelt, um dort Hilfe und Rettung zu holen. Dass er danach nie wieder in seine Welt zurückkehren wird, erfährt er erst viel später.

Der Großteil des Films handelt davon, wieder ins Leben, in die Welt außerhalb des Raums zurückzufinden. Ma kann mit ihrem Leben von früher nicht weitermachen, und Jack weiß nicht, woran er sich orientieren soll, wenn die Welt plötzlich so unermesslich groß ist. Dieses Staunen, das auch ein Fürchten ist und im Kern von Neugier gespeist wird, spielt Jacob Tremblay so intuitiv und nuanciert, dass man als Zuschauer fast vergisst, dass dies keine Dokumentation, sondern ein Spielfilm ist.

Solange ein Kind geliebt wird, lernen wir, kann alles normal sein, denn die Liebe zwischen ihm und seiner Mutter ist der Maßstab seiner Welt. So ist Raum auch eine Geschichte über Wachstum, denn am Ende sind sowohl Mutter als auch Sohn verändert, die eine ist über sich hinausgewachsen und hat sich selbst in der Freiheit wiedergefunden, während der andere über seine Welt hinauswächst und neue Menschen in sein Leben integriert.

Der Film von Lenny Abrahamson (Regie) und Emma Donoghue (Roman und Drehbuch) ist weitgehend unaufgeregtes Schauspielerkino, intensiv inszeniert, aber nur selten wirklich dramatisch oder spannend, eher eine Tour de Force der Seele, schön gespielt, aber nicht frei von Längen.

Note: 3+

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Über Pi Jay

Ein Mann des geschriebenen Wortes, der mit fünfzehn Jahren unbedingt eines werden wollte: Romanautor. Statt dessen arbeitete er einige Zeit bei einer Tageszeitung, bekam eine wöchentliche Serie - und suchte sich nach zwei Jahren einen neuen Job. Nach Umwegen in einem Kaltwalzwerk und dem Öffentlichen Dienst bewarb er sich erfolgreich an der Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg. Er drehte selbst einige Kurzfilme und schrieb die Bücher für ein halbes Dutzend weitere. Inzwischen arbeitet er als Drehbuchautor, Lektor und Dozent für Drehbuch und Dramaturgie - und hat bislang fünf Romane veröffentlicht.