Schloss aus Glas

Amerikaner mit schwerer Kindheit machen entweder eine Therapie oder schreiben ein Buch. Die meisten entscheiden sich, glaube ich, für ersteres, auch wenn man das Gefühl hat, dass die Autoren überwiegen. Vielleicht liegt das daran, dass diese Geschichten gerne verfilmt werden, insbesondere wenn die Eltern ihre Kinder nach Amerika (In America) oder wenigstens in die Wildnis (Captain Fantastic) verschleppen. Als Zuschauer schauen wir uns das gerne an und freuen uns darüber, dass unsere Väter und Mütter so langweilig wie normal waren.

Schloss aus Glas

Jeannette (Brie Larson) arbeitet als Klatschreporterin bei einem New Yorker Magazin und ist mit einem erfolgreichen Finanzmakler (Max Greenfield) verlobt. Ihren Eltern (Woody Harrelson und Naomi Watts) hat sie allerdings noch nichts von ihrer bevorstehenden Hochzeit erzählt, denn diese leben als unkonventionelle Lebenskünstler in einem besetzten Haus und durchwühlen den Müll auf der Suche nach Verwertbarem. Während Jeannette mit ihren Eltern um die richtige Art zu leben streitet, erinnert sie sich an ihre Kindheit, die von großer Armut und Unsicherheit geprägt war. Weil ihr Vater alkoholkrank und ständig arbeitslos war, sind sie häufig umgezogen, hatten oft kein Geld für Essen, dafür aber eine Menge Fantasie, die auch ihre Mutter, eine Malerin, beflügelt hat.

Die Story basiert auf der Lebensgeschichte der Schriftstellerin Jeannette Walls, die ungeschönt von ihrer Kindheit und ihrem ständigen Konflikt mit ihren Eltern erzählt. Ihr Vater war technisch versiert und ein begabter Ingenieur, hat aber nie ein Gleichgewicht in seinem Leben gefunden. Er war immer auf der Flucht, nur um am Ende festzustellen, dass er die Dämonen, vor denen er geflohen ist, mit sich trug. Die Gründe dafür werden angeführt und haben mit sexuellem Missbrauch in seiner Familie zu tun, aber das Thema wird weder vertieft noch dramatisch aufgearbeitet. Es ist eine Erklärung für sein Verhalten, vielleicht auch die wichtigste, aber, wie Jeannette erkennt, keine Entschuldigung für seine eigenen Fehler.

Jeannette lernt schon früh, selbstständig zu sein. Als kleines Kind kocht sie regelmäßig, wenn ihrer Mutter das Malen wichtiger ist – und setzt sich bei einem Unfall selbst in Brand. Die Narben sind aber nur die sichtbaren Spuren, die ihre Kindheit hinterlassen hat, und auch wenn sie und ihre drei Geschwister ihren Eltern irgendwann entfliehen, können sie ihnen nie entkommen. Und das nicht nur, weil die beiden ihnen nach New York folgen, um weiterhin „eine Familie“ zu sein.

Es geschehen viele Grausamkeiten, manchmal hart an der Grenze zur Misshandlung, die einen zu der Frage führen, ob es für die Kinder nicht besser gewesen wäre, man hätte sie ihren Eltern weggenommen. Auf der anderen Seite, und auch das erkennt Jeannette am Ende, wenn sie ihre Verbitterung überwunden hat, gab es überraschend viel Liebe in ihrem Leben, wenn auch in ungewöhnlicher Form.

Schloss aus Glas, benannt nach dem Fantasiehaus, das der Vater immer für seine Familie bauen wollte, Sinnbild eines glücklichen, erfüllten Lebens, ist ein Film über die Bande zwischen Eltern und Kinder, die so stark sind, dass sie nahezu unzerstörbar sind. Als Zuschauer ist man wie die erwachsene Jeannette hin- und hergerissen zwischen der Abneigung gegen diese unfähigen, egoistischen und gedankenlosen Eltern und der Verklärung ihres kindlichen Alter Egos, das nicht zur Schule gehen muss und vom Vater einen Stern als Geschenk erhält.

Insgesamt etwas zu unaufgeregt und undramatisch, aber solide erzählt und schön gespielt. Ein rundherum zufriedenstellender Film über eine ungewöhnliche Familie.

Note: 3

 

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Über Pi Jay

Ein Mann des geschriebenen Wortes, der mit fünfzehn Jahren unbedingt eines werden wollte: Romanautor. Statt dessen arbeitete er einige Zeit bei einer Tageszeitung, bekam eine wöchentliche Serie - und suchte sich nach zwei Jahren einen neuen Job. Nach Umwegen in einem Kaltwalzwerk und dem Öffentlichen Dienst bewarb er sich erfolgreich an der Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg. Er drehte selbst einige Kurzfilme und schrieb die Bücher für ein halbes Dutzend weitere. Inzwischen arbeitet er als Drehbuchautor, Lektor und Dozent für Drehbuch und Dramaturgie - und hat bislang fünf Romane veröffentlicht.