Oscar-Nachlese

Streng genommen ist die Nachlese ein Live-Kommentar.Nur eben nicht live veröffentlicht. Mark G. wollte mich überreden, live zu posten, aber dann hätte ich das viel früher ankündigen müssen, außerdem weiß ich zu diesem Zeitpunkt weder, ob mir genug einfällt, um einen kompletten Beitrag füllen zu können, noch, ob ich bis zum Ende der Veranstaltung durchhalte.

Zur Sicherheit habe ich vor Beginn der Sendung ein Nickerchen gemacht – und prompt um ein Haar verschlafen. Die Übertragung vom roten Teppich war schon so gut wie vorbei, als ich endlich vor dem Fernseher saß, war aber immer noch lang genug, dass ich mich wie in jedem Jahr gefragt habe, warum Pro7 es immer noch nicht schafft, eine auch nur halbwegs ertragbare Sendung auf die Beine zu stellen.

Ohne Moderator war ich mir nicht sicher, wann es überhaupt losgeht. Aber mit einem kurzen Queen-Medley kann man nicht viel falsch machen, um das Publikum auf die kommende Show einzustimmen – dachten sich zumindest die Veranstalter. Für einen guten Sänger hat das Budget dann leider doch nicht gereicht, aber das spielt bei diesen Klassikern eigentlich auch keine Rolle. Und danach drei Komikerinnen auf die Bühne zu schicken, um den ersten Preis zu verleihen, lockert die Atmosphäre ebenfalls auf. Dennoch vermisse die schmissige Eröffnungsnummer, die die nominierten Filme auf originelle Art vorstellt und manchmal persifliert.

Habe ich schon die Bühne erwähnt? Nachdem das Design in den vergangenen Jahren immer klassisch-schlicht und elegant war, wollten sie sich diesmal anscheinend etwas Üppiges gönnen und haben eine Art Rahmen gebastelt, durch den die Bühne nun wie ein Guckloch in einer Felswand aussieht. Was soll das darstellen? Stoffbahnen? Wellen? Auch die wirre Linienführung in der Dekoration sorgt eher dafür, dass man vom eigentlichen Geschehen abgelenkt wird. Absolut furchtbar.

Immerhin sind sie einigermaßen flott. Bevor ich es gemerkt habe, wurde bereits der erste Oscar verliehen – und ich lag prompt daneben. Regina King wäre meine zweite Wahl bei den Nebendarstellerinnen gewesen, aber dicht daneben ist eben auch vorbei. Auch bei den Preisen für Kostüme und Ausstattung hätte ich nicht mit Black Panther (ernsthaft?) gerechnet, dafür habe ich bei der Kamera wenigstens richtig auf Alfonso Cuarón getippt.

Inzwischen ist knapp eine Stunde vergangen, und ich kann zwei Feststellungen machen: Die Danksagungen sind zu lang, langweilig und in vielen Fällen erschreckend unvorbereitet. Ich weiß nicht, was schlimmer ist, mit den stammelnden Leuten auf der Bühne zu leiden oder von ihnen gelangweilt zu werden. Was mich aber wirklich erschreckt, ist, wie wenige Schauspieler ich im Publikum erkenne. Wer sind all diese Leute und welche Filme haben sie gemacht? Bei manchen gebe ich ja den Schönheitsoperationen die Schuld, dass ich sie nicht (mehr) erkenne, aber es scheint sich außerdem gerade ein Generationswechsel zu vollziehen, weg vom Star, hin zur Persönlichkeit des jeweiligen Films oder Moments. Ach ja, und ich finde das Bühnendesign immer noch scheußlich.

Wunderbar, dass Roma mit dem Oscar für den besten fremdsprachigen Film ausgezeichnet wurde, auch wenn Werk ohne Autor dafür leer ausging. Apropos leer ausgehen: In meiner Prognose habe ich The Favourite drei Oscars in Nebenkategorien zugesprochen, von denen er bislang keinen bekommen hat. Sieht so aus, als würde der Film ein noch viel größerer Verlierer sein als ich erwartet hatte.

Mahershala Ali als Bester Nebendarsteller? Sicher, er war gut in Green Book, aber andere Schauspieler haben auch mal einen Oscar verdient. Na ja, immerhin bei Spider-Man – A New Universe lag ich richtig. Überspringen wir nun einige Preise, viele langweilige Danksagungen (wo bleiben die Tränen, die großen Emotionen?) und unbekannte (und ebenfalls unwitzige) Präsenter. Okay, kaum habe ich das geschrieben, kommt der bizarre Moment, als der Oscar für die beste Kurzfilm-Dokumentation an einen Beitrag über Menstruation geht und eine der Damen heftig zu weinen beginnt. Dazu verkneife ich mir lieber jeden Kommentar.

Warum sind die meisten nominierten Filmsongs eigentlich immer so langweilig und monoton, ohne nennenswerten, geschweige denn mitsingbaren Refrain? Heuern die Produzenten unbedingt hochkarätige Komponisten an und bestellen dann die flachsten nur vorstellbaren Songs? Dagegen wirkte Shallow wie die reinste Frischzellenkur. Im übrigen bin ich der Meinung, dass das Bühnenbild immer noch eine Scheußlichkeit ist.

Samuel L. Jackson wich vom Script ab und verkündete aktuelle Sportergebnisse, was vielleicht der natürlichste Augenblick der Show war. Und Brie Larson gehört definitiv zu jener neuen Generation von Stars, die mit einem Namensschild herumlaufen müssten, damit ich sie erkenne. Warum wirken diese neuen Schauspieler nur so blass und konturlos und haben so wenig Charisma wie ein Camembert? Bei den Preisen für die besten Drehbücher lag ich immerhin zur Hälfte richtig. Aber irgendwie interessiert mich das schon gar nicht mehr. Immerhin wurde es mit Spike Lee endlich mal politisch. Bisher war die gesamte Veranstaltung viel zu brav.

Dass bei der Original-Musik nicht das einzige nominierte Musical, sondern der am meisten überschätzte Film der letzten Jahre ausgezeichnet wurde, ist tatsächlich eine ziemliche Enttäuschung. Andererseits, wenn Mary Poppins‘ Rückkehr nicht einmal für seine Musik prämiert wird, kann ich mir den Film vermutlich ganz sparen. Mit Lady Gaga wurde es dann doch noch einmal kurz emotional, ganz zu schweigen von der traditionellen Ehrung der Verstorbenen, die aber – vielleicht weil kaum Filmausschnitte gezeigt wurden – erstaunlich nüchtern wirkte.

Der Oscar für Rami Malek ist nun wirklich keine Überraschung, er war nun wirklich das Beste an Bohemian Rhapsody – abgesehen von der Musik natürlich, aber die war ja schon früher da. Bei den Damen war es dann sogar richtig spannend, denn obwohl ja allgemein erwartet wurde, dass der Preis an Glenn Close geht, erhielt ihn am Ende die wunderbare Olivia Coleman. Endlich gab es Emotionen! Eine launige Rede (ach, die Briten sind selbst in ihren wirrsten Momenten noch witzig)! Ein Erwachen aus der Lethargie des Abends.

Alfonso Cuarón erhielt verdienterweise den Oscar für die beste Regie, während Green Book der beste Film des Jahres wurde. Verdient? Aus meiner Sicht nicht, aber man kann verstehen, warum er die meisten Stimmen erhielt. Gab es in den letzten Jahren Kritik, dass der Oscar zu weiß sei, ist er in diesem Jahr so farbig wie noch nie. Das ist auf jeden Fall ein schönes, hoffnungsvolles Zeichen.

Wie lautet nun mein Fazit? Es war eine effiziente Veranstaltung, aber sie sprühte auch nicht gerade vor Witz und Einfallsreichtum. Wer schon einmal bei einer amerikanischen Tradeshow war, weiß, dass sie ungeheuer professionell gemacht sind, eine Menge Stars aufbieten, die aber dann nur ihr Gesicht hinhalten, während sie (oft monoton) ihren Text vom Teleprompter ablesen. So kam mir die gesamte Oscarverleihung vor, leidenschaftlich wie eine Ansage auf dem Bahnsteig und ohne ein einziges Highlight. No night to remember.

Viel wurde ja im Vorfeld darüber geredet, dass Netflix und die Streamingdienste ganz allgemein gerade das Kino verändern bzw. seinen Totengesang anstimmen. Man kann sagen, Netflix war dieses Jahr ziemlich präsent und hat mit Roma und seiner Kurzfilm-Doku ordentlich abgeräumt. Warten wir ab, ob diese Umarmung des neuen Players eine tödliche für Hollywood sein wird oder nicht. Und wenn die Oscarverleihung so etwas wie eine Verkaufsshow für das Kino sein soll, kann man sagen, sie war leider nicht überzeugend. Wo war die Leidenschaft? Wo der Glamour?

Bei der Preisvergabe herrschte dieses Jahr das Gießkannenprinzip vor. Irgendwie bekam jeder Film einen Goldjungen ab, einen starken Favoriten hat es aber nicht gegeben, ganz besonders nicht The Favourite, der wie alle seinen „Trostpreis“ erhielt. Dass Bohemian Rhapsody mit vier, Roma, Black Panther und Green Book mit jeweils drei Oscars die großen Gewinner sind, sagt eigentlich alles über die Qualität des Jahrgangs aus, die eher durchschnittlich war. Aber immerhin habe ich diese Filme auch alle gesehen.

Persönlich kann ich sagen, dass durch das Schreiben dieses Posts die Veranstaltung schneller rumging als sonst. Vielleicht werde ich also nächstes Jahr doch live veröffentlichen …

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Über Pi Jay

Ein Mann des geschriebenen Wortes, der mit fünfzehn Jahren unbedingt eines werden wollte: Romanautor. Statt dessen arbeitete er einige Zeit bei einer Tageszeitung, bekam eine wöchentliche Serie - und suchte sich nach zwei Jahren einen neuen Job. Nach Umwegen in einem Kaltwalzwerk und dem Öffentlichen Dienst bewarb er sich erfolgreich an der Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg. Er drehte selbst einige Kurzfilme und schrieb die Bücher für ein halbes Dutzend weitere. Inzwischen arbeitet er als Drehbuchautor, Lektor und Dozent für Drehbuch und Dramaturgie - und hat bislang fünf Romane veröffentlicht.