Roma

Alfonso Cuarón ist einer der besten Regisseure unserer Zeit. Deshalb war ich hocherfreut, als er in Venedig seinen neuen Film Roma vorgestellt hat, der – nach allem, was man so hört – zudem außerordentlich gut gelungen sein soll. Die gute Nachricht ist: Er erscheint diese Woche auf Netflix, so dass die Fans nicht länger auf ihn warten müssen. Die schlechte Nachricht: Er erscheint auf Netflix.

Vergangene Woche wurde der Film in ausgewählten Kinos in einer Sondervorstellung gezeigt, und da Cuarón ein Bildermagier ist, wollten Mark G. und ich den Film unbedingt auf der großen Leinwand sehen.

Roma

Mexico City 1970: Cleo (Yalitza Aparicio) arbeitet als Hausmädchen für die Familie des Arztes Antonio (Fernando Grediaga) und seiner Frau Sofía (Marina de Tavira). Sie ist mit Fermín (Jorge Antonio Guerrero) liiert, der asiatische Kampfkünste studiert und Cleo sitzenlässt, als sie schwanger wird. Auch Sofía wird von ihrem Mann verlassen und muss die vier gemeinsamen Kinder ganz allein durchbringen. Trotz dieser Veränderungen und Schicksalsschläge nimmt das Alltagsleben weiterhin seinen Gang, nur hin und wieder beeinträchtigt durch die gesellschaftlichen und politischen Umwälzungen im Land.

Alfonso Cuarón, der nicht nur Regie geführt, sondern auch das Drehbuch geschrieben und produziert hat sowie für die Kamera und teilweise auch den Schnitt verantwortlich war, knüpft nach seinen Ausflügen nach Hollywood wieder da an, wo er mit Y tu mamá también – Lust for Life aufgehört an. Roma ist keine dramatische Erzählung, sondern eher eine stille Beobachtung, fast schon eine Meditation über das Leben.

Roma ist auch ein sehr autobiografischer Film, und Cuarón sagte in einem Interview, dass er nicht nur den Schauplatz wie das Haus seiner Kindheit aussehen ließ (wofür er sogar einige Originalmöbel besorgte), sondern auch die Darsteller so gecastet hat, dass sie seiner Familie ähnlich sahen. Es ist in gewisser Weise ein Re-Enactment der Familiengeschichte und gleichzeitig eine Hommage an das Hausmädchen Cleo, Herz und Seele des Films wie des Haushalts.

Alles beginnt mit einer alltäglichen Verrichtung, der Reinigung des Innenhofs, der gleichzeitig als Parkplatz für den viel zu großen Wagen des Vaters dient. Während Antonio bald verschwindet, nimmt sein Auto den Platz in der Familie ein, an dem sich seine Frau abarbeitet, mit dem sie hadert, das sie in einem vermutlich absichtlich herbeigeführten Unfall demoliert, es reparieren lässt und schließlich, als sie die Hoffnung auf eine Versöhnung aufgegeben hat, frustriert erneut zerstört, bevor sie es endgültig loswird. Selten wurde so subtil, aber auch präzise von einer Beziehung erzählt, in der ein Partner abwesend ist.

Überhaupt wird fast alles nur beiläufig erwähnt. Nichts wird dramatisiert oder nach den üblichen erzählerischen Standards Hollywoods vermittelt, es gibt fast keine Diskussionen über die seelischen Nöte der Figuren, ihre Wünsche, Hoffnungen und Enttäuschungen, sondern nur eine unbestechliche Kamera, die alles einfängt, das Fröhliche wie das Traurige, das Erschütternde wie das Absurde.

Das Tempo, in dem sich das Leben der Familie vor dem Zuschauer entfaltet, ist gemächlich und gewöhnungsbedürftig, entwickelt aber mit der Zeit einen Sog, dem man sich einfach nicht mehr entziehen kann. Dazu trägt auch die präzise Schwarz-Weiß-Kamera bei, durch die der Film einerseits einen nostalgischen Anstrich bekommt, andererseits aber auch etwas Geheimnisvolles.

Man muss schon genau hinsehen, um den Figuren auf die Spur zu kommen. Im Grunde ist es die Geschichte zweier Frauen, die Cuarón hier erzählt, die Sofías, die in ihren mittleren Jahren plötzlich allein mit vier Kindern dasteht und sich in einem Leben zurechtfinden muss, das sie so nicht gewollt hat. Vor allem aber ist es die Geschichte Cleos, die ohne zu klagen oder zu verzweifeln alles hinnimmt, was ihr das Schicksal auferlegt. Es gibt eine bemerkenswerte Szene, in der eine Art Guru die Leute aufruft, sich mit geschlossenen Augen auf ein Bein zu stellen und das andere anzuwinkeln, eine Übung zur Demonstration größter geistiger Klarheit und Stärke, und während alle anderen um sie herum schwanken und straucheln, steht Cleo in perfekter Haltung da. Es gibt noch etliche andere Szenen von ähnlicher symbolischer Bedeutung, manche stärker als andere, manche geradezu magisch, andere auf eine sehr profane Art poetisch.

Der Film verführt nicht unbedingt zum Schauen, er nimmt einen eher gefangen und entführt einen in eine fremde, aber seltsam vertraute Welt. Man braucht dafür jedoch Geduld und einen Blick fürs Detail, und wenn alles nach fast zweieinhalb Stunden mit einer weiteren Alltagsbeschäftigung Cleos endet, wünschte man sich fast, es würde noch mindestens genauso lange weitergehen …

Note: 2

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Über Pi Jay

Ein Mann des geschriebenen Wortes, der mit fünfzehn Jahren unbedingt eines werden wollte: Romanautor. Statt dessen arbeitete er einige Zeit bei einer Tageszeitung, bekam eine wöchentliche Serie - und suchte sich nach zwei Jahren einen neuen Job. Nach Umwegen in einem Kaltwalzwerk und dem Öffentlichen Dienst bewarb er sich erfolgreich an der Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg. Er drehte selbst einige Kurzfilme und schrieb die Bücher für ein halbes Dutzend weitere. Inzwischen arbeitet er als Drehbuchautor, Lektor und Dozent für Drehbuch und Dramaturgie - und hat bislang fünf Romane veröffentlicht.