Die Rentner von Stepford

IMG_6483_smallWir haben ein sehr ereignisreiches Wochenende hinter uns, weshalb meine Pause auch etwas länger ausgefallen ist als ursprünglich geplant. Donnerstag und Samstag haben wir weitgehend mit der Familie verbracht, Klatsch und Lebensgeschichten ausgetauscht, viel gegessen und noch mehr gelacht. Und wir haben The Villages besichtigt.

Warum nennt man eine Stadt mit über 120.000 Einwohnern The Villages? Die Antwort ist einfach: Weil es keine Stadt ist, zumindest nicht im klassischen Sinn. Es ist vielmehr eine Ansammlung von Siedlungen, die ineinander übergehen und sich über ein riesiges Gebiet erstrecken. Es gibt keinen Bürgermeister und auch keine Stadtverwaltung, nur eine Art Verwaltungsbeirat, der für größere Distrikte zuständig ist. Wie das im Detail aussieht, kann ich auch nicht genau sagen, die gesamte Anlage wurde jedoch von einer Firma bereits in den Sechzigern geplant, allerdings erst viel später realisiert und wächst seither stetig. Wir haben eine Liste mit den Namen der neu Zugezogenen allein der letzten zwei Tage gesehen, und sie war lang. Im Schnitt sind es zwanzig Menschen pro Tag.

Das Gebiet ist wirklich riesig, erstreckt sich über drei Countys im Norden Floridas, die auch für die eigentliche kommunale Verwaltung zuständig sind. Es gibt rund 50 „Dörfer“, deren Größe zwischen 100 und über 1.500 Häuser beträgt – und alle sehen gleich aus. Das ist nicht einmal übertrieben, weil es nur ein paar Hausmodelle gibt, zwischen denen man wählen kann, wobei individuelle Anpassungen möglich sind und die Behausungen sich natürlich auch in der Größe unterscheiden. Zu individuell darf es dann aber auch nicht sein, denn der Gesamteindruck soll schließlich erhalten bleiben. So sind zum Beispiel nur bestimmte Farben für die Fassade erlaubt, und das Ergebnis ist: 50 Shades of Beige …

Wenn man nach The Villages gelangt, merkt man bald, dass hier vieles anders ist. Obwohl keine Gated Community, gibt es doch Schranken an den Zufahrtsstraßen, aber keine richtigen Kontrollen. Wir benötigten dennoch Besucherausweise, die es uns auch ermöglicht hätten, an Aktivitäten teilzunehmen. Nicht, dass wir dafür Zeit gehabt hätten …

Am Auffälligsten sind die Straßen, die neben der eigentlichen Fahrbahn noch eine separate für Golfcarts aufweisen, die das beliebteste Fortbewegungsmittel hier darstellen. Es gibt – leider habe ich nicht die aktuellsten Zahlen, so dass es inzwischen mehr sein könnten – rund 50.000 Golfcarts in The Villages. Sie flitzen erstaunlich schnell durch die Straßen, und es gibt für sie eigene Tunnel und Unterführungen sowie Brücken, um die Autobahnen zu überqueren. Unsere Gastgeber haben eine Runde mit uns gedreht, und das hat großen Spaß gemacht. Die meisten Fahrzeuge sehen wie normale Golfcarts aus, aber es gibt auch welche, die an Oldtimer erinnern, während andere Polizei- oder Feuerwehrwagen nachempfunden sind. Solche Sonderausführungen kosten dann auch rund 20.000 Dollar und mehr. Übrigens hat jede Garage noch einen kleinen Anbau im selben Stil, in dem die Golfcarts parken, was mich an Der Herr der Ringe denken ließ, da gab es auch alles eine Nummer kleiner für die Hobbits.IMG_6480_small

Die Atmosphäre in ihrer Surrealität erinnert ein bisschen an Die Truman Show, und tatsächlich scheint hier jeder permanent gut gelaunt zu sein, was kein Wunder ist, wenn man bedenkt, dass jeden Tag die Sonne scheint und es nie richtig kalt wird. Der Nachteil ist natürlich die hohe Luftfeuchtigkeit, von der es heißt, dass man sich mit der Zeit an sie gewöhnt. Vermutlich braucht man dafür aber länger als drei Tage, denn ich habe mich nicht daran gewöhnt, hatte in jeder Minute, die ich im Freien verbracht habe, das Gefühl zu schmelzen oder mich in welkes Gemüse zu verwandeln, und musste mir ständig anhören, dass es im Moment nun wirklich nicht schwül sei, zumindest nicht im Vergleich mit dem Sommer …

Um hier zu wohnen, muss man mindestens fünfzig sein (eine der wenigen Sachen, für die ich noch zu jung bin), weshalb das Durchschnittsalter der Neuzugezogenen bei Anfang sechzig liegt. Die meisten kaufen im Laufe der Zeit drei Häuser, ein kleines, wenn sie The Villages ausprobieren und zunächst nur die Winter hier verbringen wollen (die sogenannten „snow birds“), dann ein größeres, wenn sie endgültig herziehen, und dann wieder ein kleineres, wenn ein Partner verstirbt. Wenn man sich umblickt und all die Senioren sieht, meint man, in die Zukunft der überalterten europäischen Staaten zu blicken. Besonders auffällig ist auch, dass nahezu jeder weiß ist. Laut der offiziellen Statistik liegt der Anteil der weißen Bevölkerung bei 98 Prozent, und das gibt einem durchaus zu denken. The Villages ist also der Traum des wohlhabenden, weißen Amerikas, das die unschöne Realität auszublenden versucht und sich in eine heile Welt flüchtet.

Sehr viel häufiger als Menschen mit dunklerer Hautfarbe trifft man Kinder und junge Leute an, die zu Besuch bei ihren Eltern oder Großeltern sind. Der Aufenthalt ist jedoch auf dreißig Tage beschränkt. Die Menschen, die hier arbeiten, und ihre Familie leben hingegen in einer Stadt außerhalb von The Villages, sind aber ebenfalls gern gesehene Gäste.

Bei näherer Betrachtung fühlt man sich auch ein wenig an Disneyworld erinnert, weil alles ein bisschen künstlich und inszeniert wirkt. Die drei „Marktplätze“ oder Gemeindezentren mit ihren Geschäften wurden themenbezogen konzipiert und ähneln etwa einem Neuengland-Dorf oder einer Art Westernsiedlung. Ein Kino, das wir besichtigt haben, ist der originalgetreue Nachbau eines bekannten Lichtspielhauses, das früher einmal eine Spielhalle war. Sogar ein historisches Detail – eine Spielkarte, die in der Decke steckt – wurde kopiert.

Und was tut man hier so den lieben langen Tag? – Eine ganze Menge! Es gibt allein 90 „Clubhäuser“, in denen man Sport treiben, spielen, Vorträge oder andere Veranstaltungen besuchen oder schwimmen kann. Sie sehen wie Country oder Yacht Clubs aus, sehr gediegen mit viel Holz, bequemen Couchen und riesigen Sälen, in denen Mah Jong, Bingo oder was auch immer gespielt wird, oder in denen man Yoga (sogar für Athleten!) machen kann. Wir haben sogar ein neues Spiel kennengelernt, das sich Pickle Ball nennt und eine Mischung aus Tennis und Ping Pong ist. Um Tennis zu spielen, ist es vermutlich ohnehin zu heiß. Und für jede denkbare Aktivität gibt es einen oder mehrere Clubs, über 2400 an der Zahl.

Am beliebtesten ist allerdings Golf, weshalb man über 50 Plätze in und um The Villages findet. Allein letztes Jahr gingen über 5,8 Millionen Golfbälle verloren, vielleicht wurden sie aber auch von den Alligatoren gefressen …

Apropos Tiere: Obwohl die Siedlungen um einige Seen herum errichtet wurden, gibt es hier keine Mücken oder andere Insekten, ein paar hartnäckige, aber harmlose Fliegen ausgenommen. Warum das so ist, konnte keiner beantworten, aber es wird vermutet, dass irgendetwas gespritzt wird, das sie vernichtet. Mein erster – und ziemlich zynischer – Gedanke war, dass dies möglicherweise ziemlich gesundheitsschädlich ist und das Mindestalter nur deshalb bei fünfzig liegt, weil es ein paar Jahrzehnte dauert, bis sich die ersten Auswirkungen einstellen …

IMG_6476_smallEine weitere beliebte Aktivität ist das Feiern, und die alten Graupen wissen tatsächlich, wie man es krachen lässt! Wir haben den Auftritt einer (ziemlich guten) Live Band auf einem Marktplatz besucht und dem Treiben zugesehen. Es wurde viel getanzt – obwohl es bei vielen Paaren eher ein schnelles Stehen war – und irgendwann haben sich rund fünfzig Leute zum line dancing zusammengefunden, woraufhin man sich sofort in ein Musical hineinversetzt fühlte, in dem die Menschen auch plötzlich zu singen und zu tanzen beginnen.

Im Grunde ist hier den ganzen Tag lang Happy Hour, die Drinks sind recht stark (wir hatten einen Mudslide mit Kaffeelikör und Rum), und die Moral locker. The Villages verzeichnet angeblich die höchsten Raten bei Geschlechtskrankheiten unter den Senioren („Die Frauen hier können nicht schwanger werden, und die Männer sehen aus, als wären sie es“, lautete dazu der Kommentar unseres Gastgebers). Natürlich gibt es auch die entsprechenden Selbsthilfegruppen dazu; meine liebste ist aber die „Overeaters Anonymous“ …

Dieser Eintrag wurde veröffentlicht in Mark G. & Pi Jay in La-La-Land 2018 und verschlagwortet mit , von Pi Jay. Permanenter Link zum Eintrag.

Über Pi Jay

Ein Mann des geschriebenen Wortes, der mit fünfzehn Jahren unbedingt eines werden wollte: Romanautor. Statt dessen arbeitete er einige Zeit bei einer Tageszeitung, bekam eine wöchentliche Serie - und suchte sich nach zwei Jahren einen neuen Job. Nach Umwegen in einem Kaltwalzwerk und dem Öffentlichen Dienst bewarb er sich erfolgreich an der Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg. Er drehte selbst einige Kurzfilme und schrieb die Bücher für ein halbes Dutzend weitere. Inzwischen arbeitet er als Drehbuchautor, Lektor und Dozent für Drehbuch und Dramaturgie - und hat bislang fünf Romane veröffentlicht.