Bei einer Rundreise wie dieser, auf der man fast jeden Tag in einem anderen Hotel erwacht, ist es schwierig, den Überblick darüber zu behalten, wo man sich gerade befindet. Im Moment weiß ich sogar nicht einmal mehr, welchen Wochentag wir gerade haben. Und dass wir Freitag schon wieder die Zeitzone wechseln, macht es auch nicht gerade einfacher.
Donnerstag verließen wir Mississippi am Vormittag und fuhren nach Alabama. Direkt hinter der Staatsgrenze erkundigten wir uns in einem Tourismusbüro nach den Sehenswürdigkeiten in Selma und Montgomery, unsere beiden Ziele für diesen Tag. Die beiden entzückenden Damen hinter dem Tresen waren überaus hilfsbereit und suchten uns gleich eine Menge Informationsmaterial und Karten heraus. Inzwischen hat sich mein Ohr auch einigermaßen an den weichen und melodischen Südstaatendialekt mit seinen langgezogenen Vokalen gewöhnt.
Überhaupt sind die Menschen hier unglaublich freundlich und höflich; den halben Tag lang ist man damit beschäftigt, Leute zu grüßen, die man noch nie zuvor gesehen hat. Und alle sagen ständig „Sir“ zu mir, wodurch man sich unheimlich nobel und weise vorkommt – und verdammt alt. Irgendwie kaum zu glauben, dass die Vorfahren dieser wahnsinnig höflichen Menschen Sklaven gehalten haben. Andererseits könnte durchaus jeder von ihnen mit einer Waffe in der Tasche herumlaufen – das könnte sogar eine Erklärung dafür sein, dass alle so nett und zuvorkommend sind …
Selma ist eine kleine Stadt mit großer historischer Bedeutung, die für den alten Süden und die Bürgerrechtsbewegung steht. Dabei fing das große Drama der Geschichte bereits viel früher an, mit Hernando de Soto, einem spanischen Konquistador, von dem eine Museumsmitarbeiterin uns sagte, dass man ihm besser nicht begegnet wäre – es sei denn, man wäre „der König oder die Königin von Spanien“. Besagter Krieger traf sich hier mit einem Indianerstamm, und diese Begegnung ging für die Ureinwohner nicht gut aus.
Selma gab es damals, 1540, natürlich noch nicht. Die Stadt wurde erst 1815 gegründet und erlebte durch die Baumwolle einen enormen wirtschaftlichen Aufschwung. Zu dieser Zeit und etwas später zog es nämlich viele Farmer von der Ostküste in den damaligen Südwesten der USA, nachdem ihr Land durch zu intensive Bewirtschaftung ausgelaugt war und sie neue Anbaugebiete erschlossen. Im Bürgerkrieg war Selma dann eine der Rüstungsschmieden des Südens – und wurde dafür schwer bestraft: Anfang April 1865 nahm General Wilson die Stadt ein, brannte einen Großteil davon nieder und zerstörte alle Fabriken.
Rund hundert Jahre später geriet Selma erneut in die Schlagzeilen, als nach dem Tod eines jungen Afro-Amerikaners ein Protestmarsch auf der Edmund Pettus Bridge blutig beendet wurde. Über fünfzig Verletzte zählte man an jenem „Bloody Sunday“, dem zwei Wochen später ein viel größerer Marsch mit Dr. Martin Luther King an der Spitze folgte. Es dauerte vier Tage, bis die Teilnehmer die Hauptstadt Montgomery erreichten und mit ihrer Entschlossenheit dazu beitrugen, dass alle Menschen an den Wahlen teilnehmen können, egal welche Hautfarbe sie haben.
Wir sahen uns zuerst die Brücke an und spazierten danach ein wenig durch die Stadt, die sich viel von ihrem alten Charme bewahrt hat, aber leider auch ein wenig heruntergekommen ist. Aufgrund ihrer Schönheit und Bedeutung wäre Selma ein idealer Touristenmagnet, aber davon ist sie weit entfernt. Abgesehen von uns habe ich nur zwei weitere Besucher entdeckt. Viele Läden sind geschlossen, auch einige Museen haben wohl aufgegeben, und ob das historische St. James Hotel irgendwann wieder seine Pforten öffnet, steht in den Sternen.
Dabei gibt es einiges zu sehen, allein über 1200 Gebäude aus der Vor-Bürgerkriegszeit warten darauf, entdeckt zu werden, darüber hinaus gibt es jede Menge Kirchen (wie in jeder Stadt mindestens eine an jeder Straßenecke) und schattige Alleen. Nur sieht man kaum geschäftige Menschen oder nette Cafés, in denen man verweilen könnte. Dabei hätte ich so gerne einen Milchshake getrunken.
Die alten Südstaaten-Villen sind jedoch ein Traum. Meist sogar in Weiß. Die Straßen mit ihren Bäumen, lattenzaungesäumten Vorgärten und Holzhäusern, vor denen breite Veranden mit Schaukelstühlen zum Verweilen einladen, wirken wie die Kulisse eines alten Films. Fast erwartet man, Jimmy Stewart oder Gregory Peck um die Ecke biegen zu sehen. Oder vielleicht sogar eine Frau im Reifrock.
Im Reiseführer lasen wir, dass neun Meilen entfernt eine Geisterstadt liegt: Cahawba war Anfang des 19. Jahrhunderts für wenige Jahre sogar die Hauptstadt Alabamas, wurde aber nach dem Krieg weitgehend zerstört und mit der Zeit aufgegeben. Neugierig machten wir uns auf den Weg, landeten im absoluten Nirgendwo (es gab nicht einmal Mobilfunkempfang, so dass wir praktisch blind navigieren mussten) und trafen im Museumsdorf auf eine sehr nette Frau, die uns alles erklärte. Viel zu sehen gab es leider nicht, denn bis auf sehr wenige Ruinen ist buchstäblich nichts von der einstmals ansehnlichen Stadt übriggeblieben. Es gibt noch die alten Straßen, einige für die Besucher wieder befahrbar gemacht, aber von den Hütten, Stadtvillen, Geschäften und Kirchen ist nichts mehr da. Heute befindet sich auf dem Stadtgebiet ein großer Wald, in dem man vereinzelt auf die Säulen einer Villa, ein verfallenes Haus oder eine Kirche stößt.
Fast hätte diese Kulisse dazu geführt, dass ich melancholischen Gedanken über die Vergänglichkeit allen Seins nachhing, doch ließ mich die Warnung vor all den dort lauernden Gefahren nicht zur Ruhe kommen: Es gibt auf dem Gelände nämlich nicht nur Bären und Gebirgslöwen (dabei gibt es weit und breit nicht einmal einen Hügel), sondern auch Alligatoren. Dazu Vögel, die größer als Katzen werden. Und vom Gift-Efeu will ich gar nicht erst anfangen (immerhin springt der einen nicht aus dem Hinterhalt an).
Tatsächlich sind wir dann auch einem Alligator begegnet, allerdings erst später. Weil wir unbedingt die Cajun-Küche probieren wollten, habe ich nach einem entsprechenden Restaurant in Montgomery gesucht und bin auf Uncle Mick’s Cajun Café in Prattville gestoßen. Das ist eine kleine Stadt im Umland der Landeshauptstadt, gegründet 1839 und bis heute überaus entzückend anzuschauen. Ein bisschen wie eine typische amerikanische Kleinstadt, aber mit etwas Hipsterflair, denn es gibt zahlreiche Boutiquen und künstlerische Cafés, doch ohne die übliche Klientel. Und auch ohne gepfefferte Preise.
Das Lokal war sehr hübsch eingerichtet und ähnelte mehr einem Imbiss, denn man musste sein Essen an einer Theke bestellen und konnte es dann auf Papptellern mit zu seinem Platz mitnehmen. Weil wir neu waren und uns mit der Küche nicht auskannten, durften wir alle Speisen (die Auswahl beschränkt sich auf etwa ein halbes Dutzend) sogar vorher probieren. Am Ende entschieden wir uns für Jambalaya, ein Flußkrebsgratin, sahnige Shrimps und Alligator mit Wurst, dazu gab es noch „dirty Reis“, sehr süßen Mais, Erbsen mit Speck und Tomaten. Das klingt nach viel, doch die Portionen sind nicht zu groß, machen aber gut satt. Jetzt können wir endlich sagen, dass wir auch Cajun und sogar Alligator gegessen haben (besser wir sie als sie uns, meine ich), und auch wenn es ausgesprochen lecker und ziemlich reichhaltig war, hatte ich mir alles etwas schärfer gewürzt vorgestellt.
Zum Abschied hielt der Chef (Onkel Mick?) noch ein kleines Schwätzchen mit uns, und als wir gingen, hatten wir das Gefühl, schon seit Jahren dazuzugehören. So langsam gewöhne ich mich an diesen gemächlichen Rhythmus, den das Leben hier hat, an die warme Freundlichkeit und sogar an das schwüle Wetter. Fehlt eigentlich nur noch ein Schaukelstuhl auf einer Veranda …