Am Wochenende habe ich bei Amazon Prime eine neue, ungemein praktische Funktion entdeckt. Vermutlich gibt es sie schon viel länger, sie ist mir aber nie aufgefallen. Sie informiert einen darüber, welche Filme demnächst aus dem Angebot entfernt werden. Bislang markiere ich alle Produktionen, die mich interessieren, damit sie in meiner Watchliste auftauchen und ich sie nicht vergesse. Bis ich jedoch einmal Zeit habe, sie anzuschauen, sind manche Filme leider schon wieder verschwunden.
So wurde ich darauf aufmerksam, dass die Jane Eyre-Verfilmung von Cary Joji Fukunaga nur noch begrenzte Zeit zur Verfügung steht. 2011 wollte ich den Film gerne sehen, habe ihn im Kino aber verpasst, und seit er auf meiner Watchlist steht, hatte ich offen gestanden nie große Lust verspürt, ihn anzuschauen, weil es inzwischen bereits elf Verfilmungen des Romans gibt und ich das Gefühl habe, sie alle zu kennen. Außerdem spielen die Bücher der Brontë-Schwestern stets in der düsteren Moorlandschaft Yorkshires und handeln, überspitzt formuliert, von dunklen Leidenschaften und melancholischen Frauen am Rande des Wahnsinns. Okay, manchmal auch von wahnsinnigen Männern, aber man muss auf jeden Fall dafür in der richtigen Stimmung sein.
Das war ich anscheinend vergangenen Samstag, als ich grippekrank auf dem Sofa lag und düstere Moorlandschaften und melancholische Liebesdramen irgendwie verlockend klagen …
Jane Eyre
Janes Eyre (Mia Wasikowska) flüchtet an einem wolkenvergangenen Morgen aus dem Haus und strandet mitten im Nirgendwo. Völlig entkräftet erreicht sie ein entlegenes Pfarrhaus, wo sie von St. John Rivers (Jamie Bell) und seinen Schwestern (Holliday Grainger und Tamzin Merchant) liebevoll aufgenommen wird. Während ihrer Rekonvaleszenz erinnert Jane sich an ihre Lebensgeschichte: Aufgewachsen als Waise im Haus ihrer hartherzigen Tante (Sally Hawkins), wird das Kind (Amelia Clarkson), das sich gegen die ungerechte Behandlung wehrt, in ein strenges Internat gesteckt, das sie über zehn Jahre nicht mehr verlassen wird. Als Erwachsene tritt Jane eine Stelle als Gouvernante auf dem Gut Thornfield an. Dank der gütigen Haushälterin (Judi Dench) fühlt sie sich dort bald wie zu Hause – bis der geheimnisvolle Besitzer Edward Rochester (Michael Fassbender) zurückkehrt. Die beiden ungleichen Charaktere entwickeln mit der Zeit romantische Gefühle füreinander, doch Rochester hütet ein dunkles Geheimnis …
Zugegeben, man muss schon wie ich ein Faible für historische Stoffe oder zumindest die düstere Romantik des viktorianischen Zeitalters haben, um sich für die Geschichte begeistern zu können. Aber auch wenn man für die heftigen Gefühlsaufwallungen, spektakulären Wendungen und klischeehaften Ereignisse nicht viel übrighat, sollte man sich diesen Film ansehen, der niemals kitschig und abgedroschen ist und dessen Thema dank der MeToo-Debatte aktueller denn je ist.
Jane Eyre verhandelt das Verhältnis der Geschlechter und sozialen Stände zueinander und erzählt die Geschichte einer Emanzipation, die sich auch auf heutige Verhältnisse übertragen lässt. Von Kindesbeinen an zeigt Jane einen unabhängigen, kämpferischen Geist, der selbst durch fortgesetzte Misshandlung nicht gebrochen wird. Rochester vergleicht sie mit einem wilden Vogel, der ausbrechen will, und auch Jane wünscht sich, sie wäre in der Lage, die Welt hinter dem weiten Horizont Yorkshires zu erblicken. Doch Frauen wie ihr ist das nicht möglich, sie sind arm, entrechtet und von der Macht der Männer und dem Wohlwollen einer Gesellschaft abhängig, die sie in enge Korsetts zwängt und ihnen eine untergeordnete Stellung im Haushalt aufdrängt. Regisseur Cary Joji Fukunaga und sein Kameramann Adriano Goldman veranschaulichen diese Situation mit betörend schönen, aber auch beklemmenden Bildern. Die prächtigen Kostüme und Herrenhäuser, die man als Fan historischer Film so mag, entpuppen sich hier als Käfige unerwünschter Frauen, als Gräber ungelebter Träume.
Fukunaga scheut auch nicht davor zurück, die Symbolsprache der Romantik zu zitieren oder Naturereignisse zur Unterstreichung dramatischer Konflikte einzusetzen. Das könnte leicht schiefgehen und aufgesetzt wirken, ordnet sich aber perfekt seiner Schauspielführung unter. Hier schmachtet keine naive Gouvernante ihren Dienstherrn an, denn Jane weiß um ihre schwache soziale Stellung, sie ist keine romantische Närrin, sondern eine kluge Frau, die zwar fernab der Welt aufgewachsen ist, sich aber in Bezug auf die Grausamkeit der Gesellschaft Frauen gegenüber keinerlei Illusionen macht, auch wenn sie von Gleichberechtigung träumt.
Auch Rochester, der bei ihrer ersten Begegnung so wild und furchteinflößend wirkt, offenbart nach und nach tieferliegende und verletzliche Charakterzüge, die ihn ungeheuer faszinierend erscheinen lassen. Wie er Jane immer stärker umwirbt, sie eifersüchtig macht und in seinen Bann zieht, ist hervorragend gespielt.
Hier und da gibt es ein paar kleinere Schwächen, ein paar unbedeutende Längen, Nebenfiguren, die etwas mehr Aufmerksamkeit verdient hätten, oder auch das unwahrscheinliche und melodramatische Ende, das man natürlich nicht einfach auslassen oder allzu stark verändern kann. Zum Glück gibt es mit Moira Buffini eine versierte Autorin, die es versteht, den Geist der literarischen Vorlage zu bewahren und mit einer aktuellen Botschaft zu versehen.
So ist diese Version von Jane Eyre ein bemerkenswertes Frauenporträt, das aktueller und versierter über weibliche Unterdrückung, soziale Abhängigkeiten und düstere Leidenschaften zu erzählen weiß, als es 50 Shades of Grey jemals könnte.
Das Anschauen lohnt sich – solange der Film bei Amazon Prime noch zur Verfügung steht.
Note: 2+