Kann man Palermo an nur einem Tag besuchen und dennoch alle wichtigen Sehenswürdigkeiten anschauen? Obwohl wir noch eine Woche Urlaub haben, wird langsam die Zeit knapp. Wir wollen noch die Westküste runter nach Marsala, den Tempel von Segesta und den Dom von Monreale besichtigen, nach Erice und Trapani fahren – und am Montag soll es regnen. Außerdem hat Mark G. noch eine Menge Arbeit nachzuholen, und am Wochenende sollte das Verkehrsaufkommen auch erträglicher sein. Lauter Einwände also, um nur an einem Tag nach Palermo zu fahren, obwohl man mindestens zwei oder drei bräuchte, um sich alles in Ruhe anzuschauen, die Stadt auf sich wirken zu lassen und vielleicht ein paar Museen aufzusuchen. Es war eine Herausforderung, so viel steht fest.
Ich habe mich im Vorfeld intensiv mit der Stadt beschäftigt, mir die wichtigsten Sehenswürdigkeiten aufgeschrieben und anhand eines Stadtplans eine Route erarbeitet, die auch die unterschiedlichen Öffnungszeiten der Kirchen berücksichtigt hat. Zum Glück ist die in vier Viertel unterteilte Altstadt von überschaubarer Größe. Womit ich bei meinen Vorbereitungen allerdings nicht gerechnet hatte, war – Palermo.
Es heißt ja, dass man diese Stadt entweder liebt oder hasst. Bei mir war es auf jeden Fall letzteres, zumindest auf dem Weg hinein. Der Verkehr in Palermo ist chaotisch, es ist laut, weil alle ständig hupen, und die Straßen sind verstopft. So das gängige Vorurteil. Zum Teil stimmt das sogar, auch wenn nicht so oft gehupt wird, wie man das aus alten Filmen kennt, und die Autos halten auch an roten Ampeln – die meisten jedenfalls.
Wenn man mit dem Auto in Palermo unterwegs ist, gibt es im Prinzip nur eine einzige Regel, die man zu beherzigen hat: Es gibt keine Regeln. Gefahren wird da, wo Platz ist, und so schnell wie möglich, lautet die allgemeine Devise, und man darf nie zögern, nie Unsicherheit zeigen. Fährt man nur etwas zu langsam, wird gleich gehupt, lässt man mehr als 30 Zentimeter Platz zum Vordermann, drängen gleich drei weitere Autos dazwischen. Und egal, wie viele Fahrspuren eingezeichnet sind, es ist immer noch Platz für mindestens ein oder zwei weitere plus eine für Mopeds und Vespas, die aus dem Nichts angeschossen kommen und sich in jede noch so kleine Lücke drängen. Und für einige Marktstände am Rand obendrein. Als wir einmal in eine Einbahnstraße einbiegen wollten, standen plötzlich links und rechts von uns zwei weitere Wagen mit derselben Absicht, dabei gab es zwischen den geparkten Fahrzeugen gerade mal Platz für ein Auto – und der wurde von einem uns entgegenkommenden dreirädrigen Mini-Lieferwagen beansprucht. Auch die Fußgängerzone war stärker befahren als so manche Hauptstraße, und wehe, man wagte es, in der Mitte der Straße zu laufen!
Da wir in Altstadtnähe parken wollten, mussten wir also mitten rein ins Getümmel, und ich kann Mark G. nur bewundern für seine abgebrühte, also italienische Art zu fahren und vor allem für seine Nerven aus Stahlseilen. Ich als Beifahrer war bei unserer Ankunft das reinste Wrack. Autofahren in Palermo gehört definitiv zu den letzten großen Abenteuern unserer Zeit, gleich nach der Besteigung des Mount Everest und Schwimmen mit Haien …
Mehr durch Zufall haben wir dann relativ schnell das gesuchte Parkhaus am Bahnhof gefunden, denn den Wagen einfach irgendwo abzustellen, schien uns nicht sicher genug. Jetzt konnte unsere Exkursion endlich beginnen. Zum Thema Sicherheit noch: Obwohl man mit Palermo ja die Mafia verbindet und auch immer wieder vor Taschendieben gewarnt wurde, haben wir keine negativen Erfahrungen gemacht oder das Gefühl gehabt, in einer zwielichtigen Gegend gelandet zu sein (obwohl manche tatsächlich so aussahen). Da ist die Gefahr, bestohlen zu werden, in der U-Bahn von Rom weitaus höher.
Kaum waren wir in die erste Straße eingebogen, waren wir auch schon mittendrin im Geschehen. Wir standen auf einem Markt, zwischen den Ständen links und rechts am Straßenrand war kaum Platz zum Laufen, und dennoch drängten und schoben sich die Massen hindurch. Manchmal fuhr hier sogar jemand Fahrrad oder Moped. Die Verkäufer priesen lautstark ihre Waren an, die Metzger zerteilten Fleisch, und die Fischhändler schleppten immer neue Meeresbewohner in großen, randvoll mit Eis gefüllten Kisten an. Es war laut, voller satter Gerüche und ziemlich hektisch.
Innerhalb kurzer Zeit hatten wir die Orientierung verloren. Die Kirche, die wir besichtigen wollten und die nur am Vormittag geöffnet war, war seltsamerweise verschlossen. Und das sollte uns noch häufiger passieren. Dafür waren andere, eigentlich geschlossene Kirchen plötzlich offen, und es gab auch hier den Tag (oder eher die Woche) des offenen Denkmals, wodurch uns plötzlich ungeahnte Möglichkeiten zur Verfügung standen. Es gab so viel zu sehen und zu erleben, dass ein Tag nie und nimmer ausreichen würde, und wir hatten immer noch keinen Schimmer, wo wir eigentlich waren. In diesem Moment, muss ich gestehen, habe ich Palermo gehasst.
Okay, es gibt auch noch andere Gründe: Es ist laut und voller nerviger Touristen, die Menschen sind nicht ganz so freundlich wie in anderen Städten, und die Straßen sind schmutzig und in einem schlechten Zustand. Das Kopfsteinpflaster ist total uneben, manchmal gefährlich locker, so dass einem nach spätestens drei, vier Stunden die Füße wehtun, am Straßenrand liegt jede Menge Abfall, manchmal sogar eine tote Ratte. Seltsam ist, dass in einer Straße der Bär steppt, während in der nahezu identisch aussehenden Parallelstraße der Hund begraben ist. Straßenschilder sind auch eher Mangelware, und von den drei Karten, die wir im Laufe des Tages bekommen haben, war nur eine genordet.
Kurz und gut: Mein sorgfältig ausgearbeiteter Plan war bereits nach zwanzig Minuten obsolet. Uns blieb nichts Anderes übrig, als zu improvisieren, um so viel wie möglich von dem zu sehen, was mir im Vorfeld wichtig erschienen war. Im Nachhinein kann ich sagen: Nicht alles, was für unseren Reiseführer ein absolutes Muss war, ist auch wirklich eins. Und sich einfach treiben zu lassen, sich ein paar Punkte herauszusuchen, die einen interessieren, diese anzusteuern und auf dem Weg dorthin einfach die Stadt zu genießen, ist das Beste, was man tun kann.
Palermo ist für einen kunstbeflissenen Touristen vor allem eine Stadt der Kirchen. Wir haben ungefähr fünfzehn davon gesehen, und für nahezu jede musste man Eintritt zahlen, was eine Stadtbesichtigung zu einer recht teuren Angelegenheit macht. Die meisten Gotteshäuser sind diesen Eintrittspreis auch wert, auch wenn er gelegentlich übertrieben hoch ist. Für die kleine, zwar pittoreske, aber eben auch nur als Ruine erhaltene Kirche San Giovanni degli Eremiti sechs Euro zu verlangen, ist definitiv viel zu viel. Da kann sie architektonisch und historisch noch so relevant sein.
Unbedingt ansehen sollte man sich La Matorana und das winzige Kirchlein San Cataldo, das in direkter Nachbarschaft liegt, denn beide unterscheiden sich stark von den hier üblichen, völlig überladenen Barockkirchen. Diese sind zwar wunderschön, manchmal auch ein wenig kitschig, vor allem aber ein Generalangriff auf unsere Sehnerven: Tausende Putti tummeln sich hier an den Wänden und Decken, krabbeln die Ecken und Säulen hinauf oder belagern die üppigen Gemälde, Madonnen wirken zwischen all den verschnörkelten Säulen auf ihren Altären regelrecht verloren, und vom Betrachten der opulenten Deckenfresken bekommt man einen steifen Nacken. Es ist der barocke Overkill.
Der Normannenpalast mit seiner Kapelle voller goldgrundiger Mosaike gehört ebenfalls zu den absoluten Highlights von Palermo, die man gesehen haben sollte, die Kathedrale hingegen ist von außen schöner als von innen. Beide Orte waren ziemlich überlaufen, was ihnen etwas von ihrem feierlichen Ernst raubte, aber absolut sehenswert.
Dank des Tags des offenen Denkmals kam ich in der Chiesa della Ganzia sogar in den Genuss eine Privatführung. Die junge Dame, die mich ungefragt begleitete, sprach leider so gut wie kein Englisch, und als ich etwas großspurig meinte, dass ich etwas Italienisch könne, ratterte sie unverzüglich ihren Vortrag herunter. Erstaunlicherweise habe ich das Meiste davon sogar verstanden, nur merken konnte ich mir das alles nicht. Wer wann also was gemalt, aus dem Stein gehauen oder gestiftet hat, kann ich immer noch nicht sagen, aber immerhin weiß ich noch, dass einer der Künstler ein Schüler Michelangelos war.
Wir haben an einem Tag also mehr Kunst gesehen als andere Menschen in einem Jahr, und es war alles wunderschön, in der Summe aber dann doch zu viel. Am Ende waren wir ausbarockt, oder, wie ein Freund aus L.A. sagen würde: churched out.
Und wir waren rechtschaffen müde. Am Ende des Tages kamen wir auf zwanzig Kilometer Fußmarsch, die wir zurückgelegt haben, inklusive dem Ausflug zu einer sehr leckeren Pizzeria hier vor Ort. Palermo an einem Tag ist also durchaus machbar. Man muss nur gut zu Fuß sein …