Trümmer gucken

sen6Am Freitag ging es schon früh los, weil wir insgesamt knapp drei Stunden Fahrzeit zu bewältigen hatten und unterwegs eine Menge sehen wollten. Für einen Großteil des Weges lag das Meer zu unserer Linken, die karge, leicht gebirgige Landschaft erinnerte bisweilen wieder an den wilden Westen, anstelle verlassener Pueblos sahen wir jedoch vor allem die Ruinen alter Bauernhäuser.

sen4Nach den Tempeln von Agrigento standen die ebenso alten und bedeutsamen antiken Bauten von Selinunte auf dem Programm. Auch dies eine griechische Kolonie, benannt nach dem dort wachsenden wilden Sellerie, die später im Krieg zwischen Karthago und Rom zerstört wurde. Der mächtige Zeustempel, einer der größten im gesamten Mittelmeerraum, war zu diesem Zeitpunkt nicht einmal fertig.sen5

Leider bekommt man vor allem Trümmer zu sehen, denn anders als in Agrigento wurde nur einer der Tempel halbwegs wiederaufgebaut, der Rest liegt kunterbunt durcheinander wie ein gigantisches 3D-Puzzle. Man kann aber erahnen, wie die Anlage einmal ausgesehen haben mag. Die Stadt selbst schlummert übrigens immer noch unter den ausgedehnten Olivenhainen, die das Gelände umgeben. Wer weiß also, was eines Tages noch alles entdeckt wird?

Zum westlichsten Punkt der Anlage mussten wir eine Weile laufen, was sich leider nicht wirklich gelohnt hat, denn verglichen mit dem, was gleich am Anfang zu sehen ist, können die Überreste dort nicht mithalten. Bei dreißig Grad ohne jeden Schatten war das nicht unbedingt ein Zuckerschlecken, aber man leidet ja gerne für die Kunst. Und zur Belohnung gab es nach den Strapazen Granite …

Auch den nächsten Punkt auf unserer Liste hätten wir uns sparen können: Die Cava di Cusa, der Steinbruch, aus dem das Material für die Tempel in Selinunte stammte, sind eher was für hartgesottene Hobby-Archäologen. Man läuft zwar durch eine angenehme Landschaft mit vielen Bäumen (und Schatten), aber die Punkte, an denen man halb aus dem Fels gehauene Säulen zu sehen bekommt, liegen leider recht weit auseinander. Abenteuerlich war auch der Weg dorthin, der zuerst durch ein Industriegebiet und dann über eine Kopfsteinstraße führte, die aus der Römerzeit hätte stammen können. Angesichts der gusseisernen Laternen links und rechts tippe ich aber auf die Mitte des letzten Jahrhunderts. Eine typische „Heute schon genickt?“-Strecke.

sen3Bei Mazara del Vallo hatte ich kurz mit dem Gedanken gespielt, die Stadt buchstäblich links (unten) liegen zu lassen. Ursprünglich ein Handelshafen der Karthager und Phönizier und im äußersten Südwesten der Insel gelegen, kommt man nicht einfach zufällig daran vorbei, aber viele zählen sie zu den interessantesten Städten der Insel, vor allem wohl wegen einer besonders opulenten Kirche.

Die Anreise gestaltete sich als schwierig, weil absolut kein bewachter Parkplatz zu finden war, und das nächste Parkhaus, das Google kannte, befand sich eine Autostunde entfernt in einer anderen Provinz. Der rettende Einfall von Mark G. war, in der Nähe des Bahnhofs zu suchen, und direkt daneben gab es tatsächlich einen abgeriegelten Parkplatz in direkter Innenstadtnähe. So was steht natürlich in keinem Reiseführer …sen2

Die große Überraschung war allerdings die Stadt selbst, denn Mazara del Vallo ist eine wunderschöne kleine Hafenstadt, die sich aufs Feinste für die vielen auswärtigen Besucher herausgeputzt hat. Die Straßen der Altstadt sind angenehm zu laufen, fast alle Häuser wurden in regelmäßigen Abständen mit kleinen, bemalten Kacheln verziert, die Bauwerke, historische Ereignisse, ländliche Szenen oder die Meeresflora und -fauna zum Thema haben. Gelegentlich findet man auch größere Bilder aus Kacheln oder kunstvoll bemalte Garagentore, und auf jedem Platz stehen riesige, bunt bemalte Vasen. Vor allem in der Kasbah, jenem engen, stark arabisch geprägten Gassengewirr, gab es eine Menge Straßenkunst zu sehen. Man könnte fast den Eindruck bekommen, die Stadt habe etwas mit Keramik zu tun…

sen1Neben dieser ausgesprochen hübschen Innenstadtausstattung war alles auch noch überreich geschmückt, denn Mazara del Vallo feierte ein Fest. Auf manchen Plätzen standen hübsch dekorierte Tische, und überall wurden Buden und Stände errichtet, an denen man am Abend entweder Wein, Gebäck und andere Leckereien würde kaufen können oder Dinge des täglichen Bedarfs. Manche warben auch für Genossenschaften oder Vereine, verkauften Staubsauer oder Sonnenkollektoren. Eine seltsame Mischung aus Volksfest und Industriemesse. Ein paar hatten sogar schon geöffnet, so dass wir ein paar Kekse probieren konnten.

Was gefeiert wurde, haben wir nicht ganz ergründen können. Zwei Frauen, die wir dazu befragt hatten, erzählten nur etwas von einem Feiertag. Wir nahmen an, dass es ein nationaler Feiertag sein müsse, denn ein patriotischer Rentner fuhr auf seiner Vespa fahnenschwenkend durch die Stadt und spielte, sehr zur Begeisterung mancher Passanten, in ohrenbetäubender Lautstärke die Nationalhymne. Bei einer kurzen Internetrecherche habe ich aber keinen solchen Feiertag gefunden, dafür erfahren, dass am Freitag Michaeli war. Aber letzten Endes ist es vermutlich egal, was gefeiert wird, solange man es richtig macht.

Die Festtagsstimmung war jedenfalls ansteckend. Schade war nur, dass der Dom geschlossen war und vermutlich nur noch zu den Gottesdiensten zu besichtigen ist, dafür kamen wir in den Genuss von San Francesco, einer Kirche, deren Ausstattung eine wahre Barock-Orgie ist. Man muss sie mit eigenen Augen gesehen haben, um es wirklich glauben zu können, und Fotos werden dieser Pracht bei weitem nicht gerecht. Der Küster war überdies so nett, uns in die Katakomben zu lassen, die aus dem 3. Jahrhundert stammen, aber nur aus einigen sehr engen und warmen kleinen Kammern bestehen, die ein bisschen zu renoviert wirken.

Die zweite Kirche, die ich beeindruckend fand, gibt es hingegen nicht mehr. Sie muss einmal sehr hübsch gewesen sein und nahezu kreisrund, eine archetektonische Seltenheit. Leider ist Sant‘ Ignazio vor langer Zeit schon eingestürzt und seitdem nur noch ein Trümmerfeld, das aber ebenfalls seinen Reiz hat.

Bevor das Fest begann, mussten wir leider die Stadt verlassen, denn bis zu unserer nächsten Unterkunft in Castellammare del Golfo war es noch ein Stündchen zu fahren. Die nächsten fünf Tage verbringen wir an der Nordwestküste in einem typischen Touristenort, der Ende September zum Glück nicht mehr so überlaufen ist. Dank seiner Beliebtheit bei den sonnenhungrigen Reisenden gibt es eine große Fülle an Restaurants. In einem gab es für uns zum Abendessen dann sehr leckere Pasta mit Meeresfrüchten.

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Über Pi Jay

Ein Mann des geschriebenen Wortes, der mit fünfzehn Jahren unbedingt eines werden wollte: Romanautor. Statt dessen arbeitete er einige Zeit bei einer Tageszeitung, bekam eine wöchentliche Serie - und suchte sich nach zwei Jahren einen neuen Job. Nach Umwegen in einem Kaltwalzwerk und dem Öffentlichen Dienst bewarb er sich erfolgreich an der Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg. Er drehte selbst einige Kurzfilme und schrieb die Bücher für ein halbes Dutzend weitere. Inzwischen arbeitet er als Drehbuchautor, Lektor und Dozent für Drehbuch und Dramaturgie - und hat bislang fünf Romane veröffentlicht.