Dunkirk

Es gibt Regisseure, deren Filme man sich anschauen sollte, selbst wenn man der Story nicht viel abgewinnen kann. Ridley Scott ist einer von ihnen, Christopher Nolan ein anderer. Ersterer macht wenigstens gute Filme, letzterer eher weniger. Zu meiner Überraschung sah der Trailer zu Dunkirk jedoch durchweg spannend und vielversprechend aus, andererseits war das bei Inception und Interstellar auch schon der Fall, und am Ende wurde ich dennoch enttäuscht. In der Hoffnung, dass es diesmal nicht so sein würde, habe ich mir sein jüngstes Werk kürzlich angesehen.

Vorsicht, wer den Film noch nicht kennen sollte, hier gibt es ein paar Spoiler!

Dunkirk

Im Zweiten Weltkrieg werden britische und französische Soldaten von den Deutschen zurückgedrängt und schließlich in und um Dünkirchen eingekesselt, darunter auch der junge Tommy (Fionn Whitehead). Ein Lazarettschiff holt die Verwundeten ab, doch um alle Soldaten zu retten, fehlt es an Schiffen. Ein paar Kriegsschiffe können noch eine kleine Anzahl an Bord nehmen, werden dabei aber von der deutschen Luftwaffe beschossen. In Großbritannien ergeht derweil ein Aufruf an die Besitzer kleiner Schiffe und Segelboote, die sich nach Dünkirchen aufmachen sollen, um die Truppen zu retten. Einer davon ist Dawson (Mark Rylance), der die Überfahrt wagt, während über ihm die britische Luftwaffe den Kampf mit den Feinden aufnimmt …

Der Film beginnt mit der spannenden Flucht des jungen Soldaten Tommy, der sich durch das von Heckschützen bevölkerte Dünkirchen zum Strand durchschlägt, in der Hoffnung, von dort aus nach England verschifft zu werden. Endlich angekommen, muss er feststellen, dass dort bereits Tausende ebenfalls auf ihre Rettung warten – es scheint hoffnungslos. Mit wenigen Szenen skizziert Nolan die dramatische Ausgangslage, und durch die Konzentration auf das Schicksal einiger weniger Soldaten und Zivilisten bekommt der Film eine Intensität und Unmittelbarkeit, die für Spannung von der ersten bis zur letzten Minute sorgt.

Neben Tommy gibt es noch einige andere Rekruten, die sich ihm anschließen, darüber hinaus wird auch die Geschichte des beherzten Freizeitkapitäns Dawson geschildert, der sich mit seinem Sohn und einem weiteren Jungen auf den Weg nach Dünkirchen macht, sowie des Piloten Farrier (Tom Hardy), der gegen die angreifenden Deutschen in die Luftschlacht zieht. Dramatische Situationen gibt es so zuhauf, sei es auf hoher See, wo Dawson es mit einem traumatisierten Schiffbrüchigen (Cillian Murphy) zu tun bekommt, am Strand, wo Tommy und die anderen Soldaten von sinkenden Schiffen entkommen müssen, oder in der Luft, in der sich die Jagdflugzeuge nervenaufreibende Schlachten liefern.

Leider kommt man bei all dieser Dramatik keiner dieser Figuren wirklich nahe, keine erhält ein erkennbares Gesicht oder unverwechselbare Charakterzüge, sie dienen alle nur als Platzhalter in einer atemlos erzählten Geschichte, deren historische Bedeutung sich einem auch erst im Nachhinein erschließt – falls man sich genauer mit der Materie beschäftigt. Nolan interessiert sich nicht wirklich für seine Figuren, sondern in erster Linie für seine Story, was dramaturgisch vielleicht nicht geschickt, in diesem Fall aber halbwegs verständlich ist. Schließlich handelt es sich hier nicht um eine beliebige Episode aus dem Zweiten Weltkrieg, sondern um die vermutlich größte Rettungsaktion in der Geschichte.

Man kann diese Haltung aber auch als Statement begreifen: In Zeiten des Krieges ist kein Platz für Individualität, da geht es nur ums nackte Überleben, und manchmal ereignen sich dabei eben auch unschöne Szenen, die von den Geschichtsbüchern verschwiegen werden. Um zu entkommen, schrecken einige Figuren vor nichts zurück, da werden Engländer gegen Franzosen ausgespielt, die Mitglieder des einen Bataillons gegen die eines anderen. Der Mensch wird reduziert auf seine Instinkte.

Im klaren Gegensatz dazu stehen die Offiziere (Kenneth Branagh und James D’Arcy), die nicht nur zivilisierter, sondern auch besser informiert sind. Sie wirken wie die stillen, geradezu gelähmten Beobachter einer Tragödie, weil ihnen klar ist, dass sie niemals alle Soldaten evakuieren können, obwohl die Heimat so nahe ist, dass man sie beinahe sehen kann. Ein poetischer, elegischer Standpunkt, der ihre eigene Hilflosigkeit unterstreicht und den Nolan anscheinend so treffend findet, dass er ihn gleich mehrmals zur Sprache bringt.

Genau dieselbe Konstellation findet sich auch auf dem Meer, wo Dawson als einziger ruhig und besonnen bleibt, während um ihn herum der Wahnsinn des Krieges tobt. Er ist die fleischgewordene Verkörperung englischer Tugenden, der für alles Verständnis hat, vor allem für die menschlichen Nöte und Schwächen und der unbeirrt seinem moralischen Kompass folgt. Sein Gegenpart ist der hysterische, von den Angriffen schwer traumatisierte Cillian Murphy, von dem man nie so recht erfährt, wie er eigentlich aufs Meer hinausgelangt ist. Dawson und sein Sohn sind somit die sympathischsten Figuren der Geschichte, und Menschen wie sie vermisst man in den unruhigen Zeiten des Brexit am meisten …

Obwohl man sich den wenigsten Figuren emotional nahe und verbunden fühlt, ist der Film über weite Strecken spannend. Das liegt an der Kunstfertigkeit des Regisseurs Christopher Nolan, der nicht umsonst als einer der besten Köpfe seiner Zunft gehandelt wird. Leider steht ihm der Drehbuchautor Christopher Nolan im Weg, der es mit schöner Regelmäßigkeit fertig bringt, ein an sich gutes Script zu verhunzen. Diesmal mangelt es seinem Buch nicht so sehr an Logik und kausalen Zusammenhängen wie sonst, sondern an einer brauchbaren Struktur und einer vernünftigen Einordnung der Einzelereignisse in einen historischen Kontext.

Die unterschiedlichen Erzählstränge bekommen am Anfang eine zeitliche Zuordnung, die die Dauer der geschilderten Ereignisse benennen soll. Der Luftkampf ereignet sich somit innerhalb einer Stunde, die Überfahrt von Dawson an einem Tag und die Evakuierung am Strand in einer Woche. In den beiden ersten Fällen scheint das zu stimmen, obwohl es für die zeitliche Orientierung hilfreich gewesen wäre, wenigstens hin und wieder ein Datum oder eine Uhrzeit einzublenden. Die Schilderung dessen, was am Strand passiert, passt jedoch in keiner Weise zum Rest des Films und scheint sich eher in zwei Tagen abzuspielen, was zunächst höchst verwirrend und später richtig ärgerlich ist. Vor allem ist es komplett unnötig, denn man hätte die Ereignisse auch halbwegs in einer chronologischen Reihenfolge erzählen können, ohne dabei an Spannung zu verlieren.

Im Gegenteil, so hätte sich vermutlich die Chance geboten, zu erklären, warum diese Episode des Krieges von so großer historische Bedeutung ist, warum die Rettungsaktion, die dem Mythos von Dünkirchen zugrunde liegt, sich so entscheidend auf die Mentalität der Briten und damit auf den Verlauf des Krieges ausgewirkt hat. Dass über 330.000 von 370.000 eingekesselten Soldaten evakuiert wurden, weil ihnen zahllose Zivilisten in ihren kleinen Schiffen und Booten zur Rettung geeilt sind, geht in der atemlosen Hatz, den wirbelnden Luftangriffen und sinkenden Kreuzern völlig unter. Rund 900 Schiffe waren an der Operation Dynamo beteiligt und trugen zum „Miracle of the Little Ships“ bei – Nolan, bei dem es so aussieht, als hätten sich vielleicht zwei Dutzend Schiffe auf den Weg gemacht, verzichtet zugunsten einer endlosen Aneinanderreihung von Action-Sequenzen leider völlig auf diese Hintergründe und reduziert eines der emotionalsten Ereignisse des Zweiten Weltkriegs auf einen oberflächlichen Kampf ums Überleben. Das ist das vermutlich größte Ärgernis.

So ist Nolan zwar einer seiner spannendsten und in sich logischsten Filme seiner Karriere gelungen, an seinem Thema ist er jedoch komplett gescheitert.

Note: 3

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Über Pi Jay

Ein Mann des geschriebenen Wortes, der mit fünfzehn Jahren unbedingt eines werden wollte: Romanautor. Statt dessen arbeitete er einige Zeit bei einer Tageszeitung, bekam eine wöchentliche Serie - und suchte sich nach zwei Jahren einen neuen Job. Nach Umwegen in einem Kaltwalzwerk und dem Öffentlichen Dienst bewarb er sich erfolgreich an der Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg. Er drehte selbst einige Kurzfilme und schrieb die Bücher für ein halbes Dutzend weitere. Inzwischen arbeitet er als Drehbuchautor, Lektor und Dozent für Drehbuch und Dramaturgie - und hat bislang fünf Romane veröffentlicht.