Eine der für mich schönsten filmischen Überraschungen des Jahres startet dieses Wochenende. Das Thema hochbegabtes Kind ist vielleicht nicht spektakulär, da begabt (passend zum Originaltitel Gifted) ausnahmsweise nichts mit übernatürlichen Fähigkeiten zu tun hat, bietet aber jede Menge Potential für ein intensives Drama.
Eltern mit einem hochbegabten Kind sind wahrlich nicht zu beneiden. Ich erinnere mich an eine Freundin, deren Sohn zu jener kleinen Gruppe zählt, und die sich plötzlich mit einem musikalischen Wunderkind konfrontiert sah, das mit fünf, sechs Jahren schon ein kleiner Geigenvirtuose war. Wie viele Übungsstunden kann man einem Kind zumuten? Soll man es auf eine besondere Schule schicken? Noch dazu ein Internat, weit vom Zuhause entfernt? Sie hat sich am Ende dagegen entschieden – und war froh, dass er einige Zeit später seine Leidenschaft fürs Fußballspielen entdeckte und die Geige nur noch die zweite Geige spielte …
Begabt – die Gleichung eines Lebens
Nach dem Selbstmord seiner Schwester zieht Frank (Chris Evans) ganz allein deren Tochter Mary (Mckenna Grace) auf, die wie ihre Mutter mathematisch hochbegabt ist. Frank will jedoch keine spezielle Förderung für sie, weil seine Schwester unter dem unerbittlichen Drill ihrer ehrgeizigen Mutter Evelyn (Lindsay Duncan) zerbrochen ist. Als Evelyn jedoch von Marys Talent für Zahlen erfährt, setzt sie alles daran, das Sorgerecht für sie zu bekommen.
Eltern hochbegabter Kinder sind nicht zu beneiden, müssen sie doch einerseits alles daransetzen, die bestmögliche Förderung für ihren Nachwuchs zu bekommen, und andererseits ihnen ermöglichen, eine unbeschwerte Kindheit zu erleben. Fördert man sie zu wenig, können sie nie ihr Potential ausschöpfen, langweilen sie sich in der Schule und lassen unter Umständen ihr Talent verkümmern, treibt man sie hingegen zu sehr an, nimmt man ihnen ihre Kindheit und stürzt sie womöglich ins Unglück.
Frank schlägt sich mit Gelegenheitsjobs als Bootsbauer durch, obwohl er ein kluger Kopf ist, ein ehemaliger Philosophieprofessor, der genau erkennt, wie außergewöhnlich Marys Begabung ist. Er hat sie nach Kräften gefordert und ihr gleichzeitig eine normale Kindheit bewahrt – doch sowohl ihm als auch seiner Nichte ist klar, dass ihr Talent sie zu einer Außenseiterin macht. Deshalb will er sie auch auf eine normale Grundschule schicken, was natürlich sehr schnell schief geht.
Das Bemerkenswerte an der Geschichte von Tom Flynn (Drehbuch) und Marc Webb (Regie) ist, dass man beide Seiten verstehen kann. Man fiebert natürlich mit Frank mit, weil er sympathisch ist und nur das Beste für Mary im Sinn hat, während Evelyn in erster Linie daran interessiert zu sein scheint, ihre verstorbene Tochter, in die sie so viele hochfliegende Hoffnungen gesetzt hat, zu ersetzen. Und damit auch selbst ein Stück Ruhm zu erlangen, nachdem sie ihre eigene wissenschaftliche Karriere aufgeben musste, um die Rolle der Ehefrau und Mutter zu erfüllen, die die damalige Gesellschaft von ihr erwartet hat. Man kann Evelyn jedoch auch insofern verstehen, dass es unsinnig ist, Mary in den Matheunterricht einer Grundschule zu schicken, wenn sie bereits das Niveau einer Studentin erreicht hat. Ohne Herausforderungen wird Mary aufsässig und reizbar – der Geist ist eben ein hungriges Tier, das gefüttert werden will.
Mckenna Grace spielt als Mary ihre gestandenen erwachsenen Kollegen, darunter auch Octavia Spencer als patente Nachbarin, glatt an die Wand. Man nimmt ihr das hochbegabte, einsame Genie ebenso ab wie das alberne Kind, das einfach nur in den Tag hineinleben will. Auch Evelyn ist leicht zu durchschauen – und bleibt dank Lindsay Duncans subtilem Spiel dennoch menschlich. Leider lässt das Drehbuch in Hinblick auf Franks Wandlungen in der Vergangenheit einige Fragen offen, und auch die Geschichte von Marys Mutter hätte noch die eine oder andere Enthüllung vertragen können.
Insgesamt ein wunderbarer, warmherziger und stellenweise stark berührender Film über eine ganz eigene Vater-Tochter-Beziehung.
Note: 2