Kind 44

Manchmal sieht man sich einen Film an und merkt nach einiger Zeit, dass einem die Geschichte erstaunlich bekannt vorkommt. Es ist mir ein- oder zweimal passiert, dass ich einen Film komplett vergessen hatte und erst bei der erneuten Sichtung wieder daran erinnert wurde. In der Regel ist das dann kein guter Film.

Diesmal hatte ich auch das Gefühl, die Geschichte bereits zu kennen, aber das lag nicht daran, dass ich mich nicht mehr daran erinnern konnte, Kind 44 schon einmal gesehen zu haben, sondern daran, dass er auf wahren Begebenheiten beruht, die Anfang der Neunziger weltweit für Aufsehen gesorgt haben. Andrei Tschikatilo war ein russischer Serienmörder, der über 50 Menschen auf dem Gewissen hatte, bis er 1990 verhaftet wurde.

Schon fünf Jahre später wurden seine Taten verfilmt: Chris Gerolmo schickte damals Stephen Rea auf die Jagd nach dem Mörder in Citizen X. Auch wenn die Handlung von Kind 44 in die frühen Fünfzigerjahre verlegt wurde, gibt es noch genügend Parallelen, um einen als Zuschauer zu verunsichern. Angesehen habe ich ihn natürlich trotzdem…

Kind 44

Im Krieg wird Leo (Tom Hardy) zum Helden und macht danach Karriere bei der Polizei. Als 1953 sein Patenkind tot aufgefunden, der Mord jedoch vertuscht wird, weil ein solcher Akt keinen Platz im Kommunismus hat, zweifelt Leo erstmals am Regime. Gleichzeitig fällt er einer Intrige seines Kollegen Vasili (Joel Kinnaman) zum Opfer, die sich gegen seine Frau richtet. Die beiden gehen ins Exil, wo Leo bald auf eine weitere Leiche stößt. Leo erkennt, dass ein Serienmörder am Werk ist, und überredet seinen Vorgesetzten (Gary Oldman), den Fall weiter zu verfolgen …

Im Paradies gibt es keinen Mord, lautet das Motto des Films und der Partei, das auf die angeblich himmlischen Zustände während des Kommunismus verweist, in dem Gewaltverbrechen keinen Platz hatten. Mord ist damit ein krimineller Auswuchs der schwachen, bourgeoisen Gesellschaften des Westens und insofern offiziell nicht existent. Aus diesem Grund wurde der reale Mörder auch erst nach über einem Jahrzehnt des Tötens gefunden.

Kind 44 ist jedoch weniger ein klassischer Krimi als eine leidenschaftliche Anklage des Stalinismus und beginnt nicht umsonst 1933 mit dem Holodomer. Die Hungersnot in der Ukraine, der Millionen Menschen zum Opfer fielen, gilt vielen heute als bewusst von der stalinistischen Führung herbeigeführt, um das aufständische Volk an die Kandare zu nehmen, nach anderer Lesart ist sie ein Resultat der verfehlten Planwirtschaft. Leo verliert dabei seine Familie und kommt in ein Waisenhaus. Das ist packend erzählt und nimmt einen sofort für die Hauptfigur ein.

Leider geht dem Film danach diese Eindringlichkeit langsam verloren. Man sieht Leo noch im Krieg und bei der Verfolgung eines Dissidenten (Jason Clarke), bei der er im Gegensatz zu seinem Rivalen Vasili Mitgefühl mit dessen Familie beweist. Tom Hardy macht seine Sache gut, war aber schon mal besser in der Zeichnung eines Charakters.

Insgesamt schwankt der Film etwas unentschlossen zwischen einem Politdrama und einem Thriller, ohne einem Genre davon wirklich gerecht zu werden. Gelegentlich kommt ein wenig Spannung auf, aber diese verpufft nach wenigen Minuten schnell wieder. Die Intrige, der Leo und seine Frau zum Opfer fallen, wirkt arg konstruiert und löst sich am Ende seltsamerweise in Wohlgefallen auf. Das hätte weitaus raffinierter erzählt werden können.

Die Krimihandlung besitzt ebenfalls reichlich ungenutztes Potential. Hardy und Oldman kommen dem Täter relativ schnell und unspektakulär auf die Spur, und da der Zuschauer mehr weiß als sie und den Mörder zu dem Zeitpunkt bereits lange kennt, ohne dabei einmal um eines seiner Opfer bangen zu müssen, ist seine Entlarvung keine große Überraschung. Im Showdown werden dann beide Handlungsstränge miteinander verwoben, aber auch das geschieht wenig überzeugend.

Der Roman, der erste einer Trilogie, verwebt hingegen die Biografien von Täter und Opfer weitaus raffinierter. Leider habe ich ihn nicht gelesen – und werde das nun wohl auch nicht mehr nachholen …

Note: 3-

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Über Pi Jay

Ein Mann des geschriebenen Wortes, der mit fünfzehn Jahren unbedingt eines werden wollte: Romanautor. Statt dessen arbeitete er einige Zeit bei einer Tageszeitung, bekam eine wöchentliche Serie - und suchte sich nach zwei Jahren einen neuen Job. Nach Umwegen in einem Kaltwalzwerk und dem Öffentlichen Dienst bewarb er sich erfolgreich an der Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg. Er drehte selbst einige Kurzfilme und schrieb die Bücher für ein halbes Dutzend weitere. Inzwischen arbeitet er als Drehbuchautor, Lektor und Dozent für Drehbuch und Dramaturgie - und hat bislang fünf Romane veröffentlicht.