Normalerweise wäre dies der letzte Blog-Eintrag für diese Woche, aber ab Donnerstag sind Mark G. und ich nach vier Jahren Pause mal wieder auf der Berlinale. Wir werden uns mit einigen Leuten treffen, ich werde über neue Projekte reden, und wir schauen uns natürlich auch einige Filme an. Deshalb wird es in den nächsten zehn Tagen weitere Beiträge von meiner Seite geben, in denen ich über unsere Erlebnisse in der Hauptstadt berichten werde – nicht täglich, aber so oft wie möglich und vorausgesetzt, wir dürfen schon über die Produktionen berichten.
Heute geht es jedoch um einen anderen Film, den wir bereits Anfang Dezember – und zufälligerweise ebenfalls in Berlin – auf einer Tradeshow sehen durften. In unseren Kinos startet er erst in zwei Wochen, aber er hat mir so gut gefallen, dass ich schon jetzt auf ihn hinweisen möchte:
Lion
Saroo (Sunny Pawar) ist ein kleiner Junge, der mit seiner Mutter (Priyanka Bose) und seinem Bruder Guddu (Abhishek Bharate) ein ärmliches Leben irgendwo in Indien fristet. Eines Tages nimmt Guddu ihn mit, als er sich nachts als Hilfsarbeiter verdingt, doch Saroo ist müde und schläft auf dem Bahnhof ein. Obwohl er auf seinen Bruder warten soll, steigt er auf der Suche nach ihm in einen Zug ein – und landet schließlich in Kalkutta. Weil er die Sprache dort nicht spricht und nicht weiß, woher er kommt, kommt er in ein Waisenhaus und wird zuletzt von einem australischen Ehepaar (Nicole Kidman und David Wenham) adoptiert. Über zwanzig Jahre später beginnt der erwachsene Saroo (Dev Patel) über seine Herkunft nachzudenken und macht sich mittels Google Earth auf die Suche nach seiner Familie in Indien …
Im Grunde ist der Film eine einzige, lange Reklame für Google Earth. Aber manchmal erzählt auch ein Werbefilm eine warmherzige Geschichte und stellt die Markenbotschaft hinten an, und dies ist sogar eine wahre Geschichte, die sich vor einigen Jahren zugetragen hat und uns die Möglichkeiten der modernen Technologie vor Augen führt. Natürlich geht es nicht um Computer und Programme, sie sind lediglich das Werkzeug, das Saroo benutzt, um seinem Ziel näher zu kommen, aber sie sind auch Teil des Problems, das der Film hat.
Zehn oder zwanzig Jahre früher hätte der Held noch ganz altmodisch nach Indien reisen und dort aktiv nach seinen Wurzeln suchen müssen. Er wäre auf Sprachbarrieren, bürokratische Hindernisse und allerlei Gefahren gestoßen, er hätte sich vielleicht gegen Diebe und Betrüger wehren müssen oder in eine schöne Inderin verliebt, es wäre auf jeden Fall ein großes, buntes Abenteuer gewesen. Heute ist es vor allem eine Auseinandersetzung mit den eigenen inneren Dämonen, der Saroo sich stellen muss, ein Kampf gegen das Vergessen, der ihn einsam und ein Stück weit verbittert macht.
Die Story wird sehr langsam und streng chronologisch erzählt und nimmt sich viel Zeit, Saroos Leben in Indien zu schildern, die bittere Armut der Familie, deren Vater verschwunden oder tot ist, die unerschütterliche Liebe der Mutter, die sich schindet, damit ihre drei Kinder – es gibt noch eine Schwester im Babyalter – nicht verhungern. Das alles ist eindringlich und trotz aller Armut wunderschön in Szene gesetzt. Indien ist wieder einmal ein magisches Land, das in satte Sonnenuntergangsfarben getaucht wird, und diese Szenen entschädigen in ihrer Farbenpracht ein wenig für das entgangene Abenteuer.
Auch Saroos Odyssee in Kalkutta wird in aller Ausführlichkeit gezeigt, und die Szenen erinnern an die bitteren Schicksale von Charles Dickensʼ kindlichen Helden. Das wirkt einerseits zwar etwas altmodisch, auf diese Weise wächst einem jedoch auch der kleine Saroo ans Herz. Der kindliche Darsteller ist einfach großartig, aber auch Dev Patel macht seine Sache gut. Sein Saroo ist ein neugieriger, aufgeweckter junger Mann, der sich leidenschaftlich in Lucy (Rooney Mara) verliebt und erst mit Mitte Zwanzig wieder an seine indischen Wurzeln erinnert wird, als er bei Freunden eine kulinarische Spezialität probiert, die er als Kind geliebt hat. Wie in Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit dient auch hier der Geruchs- und Geschmackssinn als Eintrittskarte in die Welt unserer Erinnerungen.
Danach tritt die Geschichte leider ein wenig auf der Stelle. Wie gesagt, eine Online-Recherche ist wenig spannend, und Saroos innerer Konflikt, seine Angst, die Gefühle seiner Adoptiveltern zu verletzen, die sogar zu einer Entfremdung zu ihnen führt, kann die Spannung nicht aufrechterhalten. So schleichen sich einige Längen ein, die der Film erst im Finale wieder wettmachen kann.
Wenn Saroo dann tatsächlich nach Indien reist, in der bangen Hoffnung, seine Mutter und seine Geschwister wiederzufinden, erreicht der Film seinen emotionalen Höhepunkt, an dem garantiert kein Auge trocken bleibt, denn es sind genau diese kleinen, zutiefst menschlichen Geschichten, die man als User so gerne in den sozialen Medien liest …
Note: 2