Falls es so etwas wie eine Liste der vom Aussterben bedrohten Genres gäbe, stünde das Melodram vermutlich ganz oben. Noch vor der Screwball Comedy oder dem Film Noir. Dem Himmel so fern von Todd Haynes war vermutlich das letzte reine Melodram Hollywoods und wirkte 2002 wie ein Anachronismus. Denn das Genre war zu diesem Zeitpunkt bereits tot und begraben und lange vergessen. Dass der Film dennoch funktioniert, liegt vor allem an den herausragenden schauspielerischen Leistungen von Julianne Moore und Dennis Quaid. Gleichzeitig ist der Film eine Hommage an Douglas Sirk, den Großmeister des Genres. Allerdings ist es kein Wunder, dass die Handlung in die 1950er-Jahre verlegt wurde, weil die Probleme der Charaktere (Rassismus und Homosexualität) zur damaligen Zeit sehr viel größer waren und die Gesellschaft um einiges rigider.
Nachdem ich, wie gestern beschrieben, feststellen musste, dass sogar berührende und psychologisch wohldurchdachte Liebesgeschichten wegen ihres Themas unter Kitschverdacht stehen und als „Schmachtfetzen“ verunglimpft werden, wundert es mich nicht mehr, dass das Melodram nahezu verschwunden ist. Denn hier dreht sich alles um die Emotion.
Im Melodram leiden, spitz formuliert, Frauen an ihren Gefühlen und einer abweisenden Gesellschaft. Manchmal lieben sie einen jüngeren Mann (Was der Himmel erlaubt), haben mit Rassismus oder ihrer tradierten Mutterrolle zu kämpfen (Solange es Menschen gibt) oder führen problematische Beziehungen zu einem ihnen nahe stehenden Menschen (Solange ein Herz schlägt). Immer geht es um die inneren Konflikte der Heldin (seltener des Helden), um große Gefühle und gesellschaftliche Zurückweisung.
Dass unsere heutige Gesellschaft um einiges toleranter und aufgeschlossener ist als noch vor fünfzig oder sechzig Jahren, ist mit Sicherheit ein Grund, warum das Melodram ausgestorben ist. Die Liebe einer älteren Frau zu einem jüngeren Mann ist heutzutage kein Tabuthema mehr, ebenso wenig wie Homosexualität oder Rassismus. Man müsste das Setting vermutlich schon in eine andere, restriktivere Gesellschaft übertragen oder in der Vergangenheit ansiedeln, um eine solide Basis für ein Melodram zu erhalten. Wenn sich heute Hollywood dieser Themen annimmt, dann meist als Historiendrama (12 Years A Slave, The Help oder Milk) und mit Charakteren, die durchaus wehrhaft sind oder wenigstens am Ende triumphieren.
Ein zweiter Grund ist in meinen Augen eher psychologischer Natur: Die Angst vor großen Gefühlen. Im Mittelpunkt des Melodrams steht immer die Liebe, das ganze große, übersteigert dargestellte Gefühl, meist verbunden mit unüberbrückbaren, gesellschaftlichen Hindernissen. Es ist eine Leidenschaft, die sich mehr über das Leiden definiert und kein Happy End garantiert. Eine zweite Chance wird meistens nicht gewährt, und die Figuren enden oft tragisch. Ein Melodram ist kein Feel-Good-Movie. Heftige Gefühlsausbrüche und übersteigerte Emotionen sind vielen Zuschauern heutzutage eher peinlich, vor allem wenn sie in der Erzählweise des Melodrams daherkommen, mit tränenüberströmten Frauengesichtern in Großaufnahme und schluchzenden Geigen. Ich bin sicher, ein Melodram der Fünfziger würden die heutigen jungen Kinogänger als unzumutbaren Kitsch empfinden.
So ist es kein Zufall, dass das Melodram als „weibliches Kino“ vor allem in einer Zeit blühte, in der die Frauen immer noch um ihre Gleichberechtigung kämpfen mussten, an Grenzen stießen und an den Regeln der Gesellschaft verzweifelten. Heute herrscht weitgehend Gleichberechtigung und gesellschaftliche Toleranz gegenüber Randgruppen – und das „Männer-Kino“ dominiert. In den ganzen Superhelden-Filmen wie Transformers, Thor, Avengers usw. hat die Action die Oberhand gewonnen. Es geht um handgreifliche Konflikte, aber nur am Rande um Emotionen.
Selbst die romantische Komödie, die heitere Variante des weiblichen Kinos, ist nahezu aus den Lichtspielhäusern verschwunden. Wenn es um große Gefühle geht, dann in den Nicholas Sparks-Verfilmungen, dem filmischen Pendant zum Groschenroman, oder romantischen Dramen wie Das Schicksal ist ein mieser Verräter oder Für immer Liebe. Hier leiden die Helden jedoch nicht unter ihren Gefühlen, sondern unter einem erbarmungslosen Schicksal, das ihre Liebe vor eine Zerreißprobe stellt. Ein Melodram ist das noch lange nicht.
Man muss den Tod des Melodrams nicht beweinen. Manche seiner Elemente sind immer noch vorhanden, grotesk verformt in Seifenopern, kunstvoll versteckt oder modern neu interpretiert von Regisseuren wie Todd Haynes oder Pedro Almodóvar. Was allerdings schade ist, dass all die alten Filme für das moderne Publikum verloren sind. Sie gelten als peinlich, verstaubt und antiquiert, weil wir verlernt haben, ihre Sprache zu verstehen. Heutige Zuschauer haben häufig keine Geduld, sich auf das langsame Tempo früherer Filme einzulassen, sie verabscheuen szenische Überhöhungen, gerade in emotionalen Momenten. Wo früher die Kinogänger(innen) schluchzten, wird heute nur abfällig gelacht. Problematisch ist das vor allem dann, wenn wir nun jede intensive Zurschaustellung von Gefühlen als kitschig begreifen und Liebesfilme als alberne „Schmachtfetzen“ abtun.
Immerhin hält Todd Haynes noch die Fahne des Melodrams hoch. Nach seiner wunderbaren Mini-Serie Mildred Pierce mit einer großartigen Kate Winslet in der Titelrolle kommt Anfang nächsten Jahres Carol in die deutschen Kinos, der sich, zumindest was Setting und Thema betrifft, in eine ähnliche Richtung zu bewegen scheint. So ganz tot ist das Melodram also doch nicht.