Mit Love & Mercy startete in diesem Jahr bereits der erste Film, dem Chancen auf eine oder mehrere Oscar-Nominierungen nachgesagt werden. Die Saison beginnt jedoch erst in einigen Monaten, was mir zum Glück noch Zeit gibt, die nominierten Filme des letzten Jahres nachzuholen, die inzwischen auf DVD erschienen sind oder bereits im Fernsehen laufen. Dabei ist es immer dasselbe: Man weiß, dass man diese Filme sehen sollte, weil sie gut sind, weil sie zu den (angeblich) besten ihres Jahrgangs gehören, aber man ist nicht immer in der Stimmung dazu. Gerade Werke wie Still Alice, garantiert hervorragend gespielt von Julianne Moore, gehen mir oft zu nahe, um sie wirklich sehen zu wollen. Mittlerweile gibt es eine ganze Liste mit „schwierigen“ Filmen wie diesen die ich grundsätzlich sehen will (Hereafter, Schmetterling und Taucherglocke oder Das Meer in mir, um nur ein paar davon zu nennen), obwohl ich weiß, dass es noch viele Jahre dauern kann, bis ich mich dazu aufraffe.
Immerhin gibt es auch noch die Kategorie jener Produktionen, die weniger problematisch sind, die zu sehen man aber nicht immer in der richtigen Stimmung ist. Winter‘s Bone und The Life of Pi warten schon ewig auf der Festplatte, und von The Artist habe ich auf einer Tradeshow die erste halbe Stunde gesehen, hatte danach aber nie große Lust, den Rest zu schauen. Die riesige Anzahl ständig verfügbarer Filme und die vielen Serien, die mittlerweile den meisten Hollywood-Produktionen den Rang ablaufen, machen es einem aber auch einfach, diesen Streifen auszuweichen. Man kann sich die Rosinen herauspicken und warten, bis man in der richtigen Stimmung ist. Wie zum Beispiel vor einigen Tagen …
Boyhood
Mason (Ellar Coltrane) lebt zusammen mit seiner Schwester (Lorelei Linklater) bei seiner Mutter (Patricia Arquette). Seinen Vater (Ethan Hawke) bekommt er nur hin und wieder zu sehen, wenn der gescheiterte Musiker mal wieder in der Stadt ist. Während Mason im Laufe der Jahre erwachsenen wird, sich verliebt und allmählich zu einem Mann heranreift, versuchen auch seine Eltern, ihr Leben immer wieder neu auf die Reihe zu kriegen.
Mit zweieinhalb Stunden ist Boyhood ein sehr langer Film – vor allem wenn man bedenkt, dass nicht sehr viel passiert. Zu Beginn ist Mason ungefähr sechs Jahre alt, am Ende geht er aufs College, dazwischen kann man beobachten, wie er heranreift und seine künstlerische Ader entdeckt. Freunde kommen und gehen, aber keine Beziehung scheint wirklich von Dauer zu sein, nicht einmal seine erste, große Liebe hält lange stand. Abgesehen von ersten Erfahrungen mit Alkohol und Marihuana ist Mason ein wohlerzogenes, braves Kind, selbst die Rebellion als Teenager bleibt weitgehend aus.
Ein bisschen spannender ist das Leben seiner Eltern dagegen schon. Seine Mutter gerät immer wieder an die falschen Männer, die zu viel trinken und – in einem Fall – sogar gewalttätig werden. So katastrophal ihre Partnerwahl ist, beruflich kämpft sie sich ehrgeizig nach oben, von der Hausfrau zur Dozentin. Auch Ethan Hawke macht eine Entwicklung durch, vom gescheiterten Musiker, der zu früh Kinder in die Welt gesetzt hat und in der Rolle als Vater überfordert ist, hin zu einem Spießbürger mit Zweitfamilie und Bürojob. Der amerikanische Traum sieht irgendwie anders aus.
Das Leben als langer, ruhiger Fluss, der uns durch die Zeit trägt: Linklater beobachtet nahezu dokumentarisch, unaufgeregt und distanziert seine Alltagshelden, denen man in all der Zeit leider kein bisschen nahe kommt. Der Film fasziniert dennoch, weil man hier buchstäblich den Schauspielern beim Altern zusehen kann. Dass dieses filmische Ausnahmeexperiment so realistisch wie eine Langzeit-Dokumentation wirkt, ist sein größtes Plus, und für die Ausdauer und den Mut haben die Beteiligten auf jeden Fall Respekt und Anerkennung verdient.
Das größte Problem ist jedoch sein eklatanter Mangel an einer greifbaren Geschichte. Alles ist eher Flickwerk, nur eine Momentaufnahme ohne dramatische Aufarbeitung des Geschehens. Beziehungsbögen werden begonnen, abrupt unterbrochen und nie wieder aufgenommen. Konflikte werden nur schlaglichtartig beleuchtet, entstehen und lösen sich aber weitgehend im Off, was auf Dauer unbefriedigend ist und den emotionalen Zugang zu den Figuren verbaut. Man könnte im Nachhinein auch nicht sagen, warum gerade dieser Junge exemplarisch für seine Generation stehen könnte. So ist Linklaters Film dramaturgisch gesehen ein Monument der Belanglosigkeit.
Note: 3