November im Mai

Als wir am Samstagmorgen Jasper verließen, regnete es. Nur ein wenig zwar, aber alles war Grau in Grau und verwaschen, dazu war es ungemütlich kalt, mehr November als Mai. Auf dem Weg nach Edmonton kamen uns Heerscharen von Autos entgegen, denn Kanada feiert an diesem Wochenende den Victoria Day, der den Beginn der Hauptreisezeit markiert, und entsprechend viele Menschen machten sich auf den Weg in die Berge. Die Armen! Mir taten auch die Radfahrer leid, die am Morgen in ihren dünnen Trikots aufgebrochen waren und die nun durch den eiskalten Regen fahren mussten.

Unterwegs wurde aus dem leichten Regen ein wahrer Wolkenbruch, und erst als wir kurz vor Edmonton waren, lockerte die Bewölkung auf, es wurde immer wärmer, bis wir schließlich bei strahlendem Sonnenschein in der Stadt ankamen. Tja, wenn Engel reisen …

Nachdem wir jetzt eine Zeitlang jede Menge Natur gesehen hatten, freuten wir uns direkt auf die Großstadt und die Möglichkeit, ins Kino zu gehen. Außerdem gibt es in Edmonton die größte Mall Nordamerikas, früher der ganzen Welt, die nicht nur über ein gigantisches Wellenbad verfügt, sondern auch über einige Kinos. Mit dem Auto lag sie sogar recht nahe an unserem Hotel, weshalb wir am Nachmittag vorbeifuhren.

Dasselbe haben sich allerdings auch ein paar Tausend Bewohner der Stadt gedacht, die dem schönen Wetter wohl nicht so recht getrauten haben. Die Mall war voll, und wenn ich mir einmal vorstellen will, wie die Welt mit zehn Milliarden Menschen aussehen wird, brauche ich nur an diesen Nachmittag zu denken. Architektonisch ist das Einkaufszentrum nichts Besonderes – mehr. Früher war sie vielleicht eine Attraktion, aber die West Edmonton Mall ist in die Jahre gekommen und wird daher gerade renoviert. Die schiere Größe ist dennoch beeindruckend – wo findet man schon ein komplettes Piratenschiff umgeben von Hunderten Läden, dessen Becken noch groß genug ist, um darin alle paar Stunden ein paar dressierte Seehunde auftreten zu lassen? Und das ist nur ein kleiner Teil der Anlage …

Der Nachteil ist: Überall trifft man auf dieselben Ketten wie in Deutschland, den USA oder sonst wo auf dem Planeten. Man könnte genauso gut in Los Angeles, Boston oder München sein, zumindest war das mein Eindruck. Außerdem bekam ich inmitten der Menschenmengen Beklemmungen, es war einfach zu voll und daher kein Vergnügen. Das I-Tüpfelchen war jedoch der erste unfreundliche Verkäufer, den ich in Kanada getroffen habe. Nachdem man überall zuvorkommend und hilfsbereit empfangen wurde, war die pampige, beleidigende Art direkt wie ein Schlag ins Gesicht. Andererseits kann man sich auf diese Weise schon langsam wieder an das Einkaufen in Deutschland gewöhnen …

Das Kino in der Mall haben wir auch deshalb ausgewählt, weil es über Ultra AVX und Dolby Atmos verfügt, das wir noch nicht live erlebt hatten. Und natürlich gab es auch den passenden Film dazu:

Mad Max: Fury Road

Nach der Apokalypse vegetiert die Menschheit auf einem öden, staubigen Planeten vor sich hin, durch radioaktive Strahlung degeneriert, sich bis aufs Blut bekämpfend um die letzten Wasser- und Benzinreserven. Mad Max (Tom Hardy) gerät eines Tages in die Fänge des Diktators Immortan Joe (Hugh Keays-Byrne) und wird als menschliche Blutkonserve dem Krieger Nux (Nicholas Hoult) zugeteilt. Dieser gehört zu einer Gruppe Verfolger, die sich an die Fersen von Imperator Furiosa (Charlize Theron) heftet, die mit Immortan Joes Sklaven-Konkubinen in die Wüste geflohen ist.

Es ist beinahe schon ironisch, dass Mad Max zu Beginn im Off ein paar einführende Worte zum Verständnis dieser Welt spricht, denn mehr als in den ersten dreißig Sekunden spricht er im ganzen restlichen Film nicht. Überhaupt hat George Millers vierter Mad Max-Film viel mit den ersten Zelluloid-Streifen der Stummfilm-Ära gemeinsam: Die Handlung ist so simpel, dass sie sich allein durch die Bilder transportieren lässt, es wird keine komplizierte Geschichte erzählt, sondern lediglich eine Begebenheit, in diesem Fall die Flucht vor dem großen, bösen Mann. Es gibt Frauen, die aus einer Notsituation gerettet werden müssen. Und Emotionen werden durch musikalische Untermalung verstärkt.

Trotzdem ist es kein altmodischer Film, und es ist erstaunlich, dass ein über siebzigjähriger Regisseur ein solches Tempo an den Tag legt und visuell so meisterhaft zu erzählen versteht, dass dieser Film wegweisend für das Actiongenre werden dürfte. Miller bietet hier die große Oper und verbindet althergebrachte, handwerkliche Meisterschaft mit der neuesten Tricktechnik – davon können sich viele leblose, CGI-generierte Spektakel ruhig ein paar Scheiben abschneiden.

Leider ist es des Guten zu viel. Es ist, als würde man zwei Stunden lang einem Feuerwerk zusehen, das einen Höhepunkt nach dem anderen abfeuert, während gleichzeitig ein klassisches Konzert aus den Lautsprechern dröhnt, das ausschließlich von Pauken gespielt wird. Dass ein visueller und akustischer Overkill weitgehend ausbleibt, ist Millers Gespür für Rhythmus und Timing zu verdanken; im entscheidenden Moment nimmt er das Tempo zurück, lässt dem Zuschauer allerdings nicht genug Luft zum Verschnaufen. Der Film müsste ein wenig länger sein, um seine idealen Rhythmus zu entfalten, er bräuchte ein paar ruhigere Szenen mehr, die auch der Entwicklung der Figuren gutgetan hätten. So bleibt alles rudimentär und grob geschnitzt, runtergekürzt auf die notwendigsten Informationen, und auch die Emotionen, die die Story durchaus weckt, wären tiefer gewesen.

Der Einfalls- und Detailreichtum des Films ist jedenfalls bemerkenswert, ebenso die Leistung von Charlize Theron, die als moderne Actionheldin so gelassen aufspielt, als wäre es ihre Geschichte. Was sie, streng betrachtet, auch ist, denn Mad Max stolpert nur zufällig hinein und wird zu ihrem widerwilligen Begleiter. Er ist der einsame Cowboy, auch eine Figur des alten Hollywood, der sich auf einen gerechten Kampf einlässt, nicht so sehr aus moralischer Notwendigkeit, sondern weil ihm nichts anderes übrigbleibt. So ist ausgerechnet die Titelfigur derjenige, an den man sich am wenigsten erinnert. Mad Max: Fury Road ist das Bindeglied zwischen dem altmodischen Actionkino und dem ganz auf Schauwerte setzenden Kino der Smartphone-Generation.

Note: 2+

Dieser Eintrag wurde veröffentlicht in Mark G. & Pi Jay in La-La-Land 2015 und verschlagwortet mit , von Pi Jay. Permanenter Link zum Eintrag.

Über Pi Jay

Ein Mann des geschriebenen Wortes, der mit fünfzehn Jahren unbedingt eines werden wollte: Romanautor. Statt dessen arbeitete er einige Zeit bei einer Tageszeitung, bekam eine wöchentliche Serie - und suchte sich nach zwei Jahren einen neuen Job. Nach Umwegen in einem Kaltwalzwerk und dem Öffentlichen Dienst bewarb er sich erfolgreich an der Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg. Er drehte selbst einige Kurzfilme und schrieb die Bücher für ein halbes Dutzend weitere. Inzwischen arbeitet er als Drehbuchautor, Lektor und Dozent für Drehbuch und Dramaturgie - und hat bislang fünf Romane veröffentlicht.