Bullet Screen

Wer kennt das nicht? Man sitzt gemütlich im Kino und genießt einen spannenden, lustigen oder sogar bewegenden Film – und irgendjemand fängt an zu quatschen. Und damit meine ich nicht, dass man sich einen kurzen Kommentar zum Geschehen zuflüstert oder beim Sitznachbarn nachfragt, falls man gerade etwas nicht verstanden hat, sondern anhaltendes Dauerreden. Noch schlimmer ist es natürlich, wenn jemand mitten im Film anfängt zu telefonieren oder zu simsen, aber das ist wieder eine andere Geschichte.

Normalerweise gelingt es mir sehr gut, störende Geräusche im Kinosaal auszublenden. Doch zwei Erlebnisse haben mich besonders genervt: Einmal sah ich einen sehr rührenden, emotional aufwühlenden Film, für den einige andere, jüngere Zuschauer offenbar noch nicht reif genug waren, denn sie machten sich ständig über das Geschehen lustig. Ein anderes Mal wisperte mein direkter Hintermann seinem Sitznachbarn eine Simultanübersetzung der Dialoge auf Spanisch zu.

In Japan, wo die Idee entwickelt wurde, und in China gibt es gerade einen neuen Trend: Bullet Screen. Bei Nichtgefallen schießen Sie bitte auf die Leinwand, bedeutet das allerdings nicht, geht aber tendenziell in diese Richtung. Es ist nämlich möglich, Kommentare und mehr oder weniger geistreiche Gedanken zum Film als Textmeldung auf die Leinwand zu projizieren, wo sie dann jedermann lesen kann. Und da es manchmal sehr viele Kommentare sind, wirkt das Bild geradezu durchlöchert vom Text. Die jungen Leute sind angeblich begeistert.

Es wird behauptet, dadurch würde eine Art von Gemeinschaftsgefühl entstehen, man könnte auch von einem Lagerfeuer-Effekt sprechen, der wiederum an die Ursprünge des Geschichtenerzählens anknüpft. Und vermutlich gab es schon in der Steinzeit irgendeinen Spaßvogel, der den Bericht zur letzten Mammutjagd mit seinen witzigen Kommentaren gestört hat.

Im Fernsehen gibt es bereits einen vergleichbaren Trend, wenn parallel zum Tatort oder Schlag den Raab getwittert wird. Und manchmal kann man dabei sogar einige sehr unterhaltsame Beiträge lesen, die das Geschehen pointiert kommentieren. Der Unterschied zur Bullet Screen liegt jedoch auf der Hand: Man kann sie lesen, auch später, getrennt vom Gezeigten, muss aber nicht. Würde man die Anmerkungen live in einem Laufband einblenden, sähe die Geschichte schon wieder ganz anders aus.

Ich bin vielleicht altmodisch, aber mir reicht das behagliche Gefühl, gemeinsam mit anderen Menschen im Dunkeln zu sitzen und dieselben Emotionen zu erleben, zusammen zu lachen oder auch zu weinen, völlig aus. In meinen Augen wäre die Einführung der Bullet Screen beinahe der Tod des Films. Denn irgendeinen Nörgler oder Besserwisser gibt es ja immer, jemanden, der zu allem seinen Senf dazugeben oder einen unreflektierten Kommentar abgeben muss. Man kann es mit einer Geschichte nicht allen Zuschauern recht machen, aber ich möchte die geistreichen oder witzigen oder albernen Kommentare nicht gleich aufs Auge gedrückt bekommen, sondern in erster Linie den Film genießen und mir meine eigenen Gedanken machen.

„Beinahe“ schreibe ich, weil ich mir durchaus vorstellen könnte, dass manche Filme davon profitieren. B- und C-Movies zum Beispiel, die unerträglich pathetisch, peinlich oder einfach nur schlecht gemacht sind und durch locker-flockige Kommentare aus dem Zuschauerraum nur gewinnen können. Aber mal ehrlich: Welcher Filmemacher würde freiwillig schon sein Werk für diese Technik zur Verfügung stellen?

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Über Pi Jay

Ein Mann des geschriebenen Wortes, der mit fünfzehn Jahren unbedingt eines werden wollte: Romanautor. Statt dessen arbeitete er einige Zeit bei einer Tageszeitung, bekam eine wöchentliche Serie - und suchte sich nach zwei Jahren einen neuen Job. Nach Umwegen in einem Kaltwalzwerk und dem Öffentlichen Dienst bewarb er sich erfolgreich an der Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg. Er drehte selbst einige Kurzfilme und schrieb die Bücher für ein halbes Dutzend weitere. Inzwischen arbeitet er als Drehbuchautor, Lektor und Dozent für Drehbuch und Dramaturgie - und hat bislang fünf Romane veröffentlicht.