Weh und Ähm

Falls es jemand noch nicht bemerkt hat: Morgen beginnt in Brasilien die Fußballweltmeisterschaft. Man müsste allerdings schon taub, blind und die letzten Wochen in einer Höhle eingesperrt worden sein, um das nicht zu wissen, da die Medien unermüdlich darauf hinweisen wie auf das Ende der Welt. Und man kann nicht einfach sagen: Ach, die WM interessiert mich nicht, weil ich kein Fußballfan bin, ich gehe in der Zeit lieber ins Kino oder sehe mir einfach eine andere Sendung an, denn es gibt leider nichts, was man sich während der vier Wochen anschauen könnte, und das ist ein Trauerspiel, denn selbst wenn sich die Hälfte aller Deutschen eine Partie ansieht, gibt es immer noch 40 Millionen, die es nicht tun. Wer macht für sie Programm?

Heute habe ich mit meiner Nachbarin darüber gesprochen, die zu den vielen Millionen Nicht-Fußballfans gehört. Vermutlich zählen die meisten Frauen zu dieser Gruppe, auch wenn Statistiken besagen, dass der Anteil der weiblichen Fußballfans stark zugenommen hat. (Vielleicht sollte man sich fragen, ob das nicht daran liegt, dass sie gar keine andere Wahl haben…). Meine Nachbarin hofft auf gutes Wetter in der nächsten Zeit, damit sie die Abende mit einem Buch auf der Terrasse verbringen kann…

Vermutlich werde am Ende sogar ich in ein oder zwei Spiele reinschauen, einfach nur um mitreden zu können, wenn ich bei meinem Friseur sitze (ein riesiger Fußballfan, der mir als Kind sogar einen Fan-Kamm meines Lieblingsvereins geschenkt hat – da ich allerdings nur drei Vereine aus der Bundesliga kannte, was ich natürlich nicht zugeben wollte, habe ich mich, glaube ich, für Schalke entschieden, für den ich seither sogar eine gewisse Sympathie empfinde…). Ich habe auch nichts gegen die WM an sich, es muss sie wohl geben, schließlich bringt sie der FIFA und den Spielern eine Menge Geld (750.000 bekommen die Spanier pro Nase, falls sie gewinnen, habe ich gelesen), nur muss man die ganze Zeit so einen Wirbel darum machen?

In den letzten Wochen habe ich allerdings den Eindruck gewonnen, dass die Medien begeisterter sind als die Menschen, die sich die Spiele schließlich anschauen werden. In den Zeitungen wird jedenfalls seit Wochen unermüdlich berichtet, selbst wenn es nichts zu berichten gibt. Im Fernsehen laufen jede Menge Dokus über Brasilien, und die Bäcker preisen ihr Weltmeisterbrot und ihre Weltmeisterbrötchen, als hätten sie gerade erst entdeckt, dass man gemahlenes Getreide zu Backwerk verarbeiten kann. Wahrscheinlich bieten auch die Metzger Wurstgirlanden in Schwarz-Rot-Gold an. Sogar man Zahnarzt fragte mich scherzhaft, ob ich meine provisorische Krone vielleicht in den Landesfarben haben möchte…

Die Menschen scheinen mir davon jedoch recht wenig beindruckt zu sein. Zumindest kommt es mir so vor, als würden sie die an Hysterie grenzende Fußballbegeisterung nicht mittragen, sondern das Stadion im Dorf lassen. Verglichen mit der WM von 2006 in Deutschland, als schon Wochen vor dem Beginn jeder zweite Wagen mit schwarz-rot-goldenen Fähnchen geschmückt war und die Fahnenmasten wie Pilze aus dem Boden wuchsen, dass man meinen konnte, wir wollten den USA Konkurrenz machen, ist in diesem Jahr kaum etwas davon zu sehen. Selbst vor vier Jahren war mehr Flagge. Von der Ohrenpest namens Vuvuzela mal ganz zu schweigen. Aber heuer? Vielleicht explodiert Deutschland am Donnerstag ja in einem Flaggenmeer, aber so recht glaube ich nicht daran. Bislang habe ich jedenfalls kein einziges Fähnchen gesehen. Möglicherweise wurden sie vor acht Jahren in einem Überschwang an Begeisterung gekauft, weil endlich einmal bei uns ein sportliches Großereignis stattfand, kamen vor vier Jahren noch einmal zum Einsatz und sind nun verschlissen und unansehnlich. Und da die Euphorie verflogen ist und kaum einer damit rechnet, dass unsere Jungs es ins Finale schaffen, mag man auch nicht so recht die Fähnchen schwingen.

Das bedeutet natürlich nicht, dass die Spiele keine Traumquoten einfahren werden. Die Leute lassen sich nur nicht verrückt machen, und das finde ich sogar positiv. Wahrscheinlich ändere ich meine Meinung wieder, sobald ein wild hupender Autokonvoi nach gewonnenem Spiel durch die Straßen fährt…

Da es im Kino kaum neue Filme gibt und das Fernsehen nur Wiederholungen bringt, überlege ich sogar, mit meinem Blog ebenfalls eine WM-Pause einzulegen.

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Über Pi Jay

Ein Mann des geschriebenen Wortes, der mit fünfzehn Jahren unbedingt eines werden wollte: Romanautor. Statt dessen arbeitete er einige Zeit bei einer Tageszeitung, bekam eine wöchentliche Serie - und suchte sich nach zwei Jahren einen neuen Job. Nach Umwegen in einem Kaltwalzwerk und dem Öffentlichen Dienst bewarb er sich erfolgreich an der Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg. Er drehte selbst einige Kurzfilme und schrieb die Bücher für ein halbes Dutzend weitere. Inzwischen arbeitet er als Drehbuchautor, Lektor und Dozent für Drehbuch und Dramaturgie - und hat bislang fünf Romane veröffentlicht.