Cassandras (Alp-)Traum

Woody Allen ist ein Phänomen. Der Mann schafft es tatsächlich, jedes Jahr einen neuen Film in die Kinos zu bringen, so pünktlich wie die Bundesbahn. Obwohl man das heutzutage ja nicht mehr sagen darf, so unpünktlich wie die Bahn immer ist.

Ich war immer ein verhaltener Fan von Woody Allen, einerseits mag ich seine geschliffenen Dialoge, sein Gespür für die Absurditäten des Alltags und seine genaue Beobachtungsgabe, wenn es um Beziehungen geht, andererseits ist nur jeder fünfte oder sechste Film wirklich gut. Da würde man sich fast wünschen, er ließe sich mehr Zeit, seine Drehbücher zu entwickeln. Oft weiß man zwar die gute Grundidee zu würdigen, muss aber bedauernd feststellen, dass die Geschichte drumherum weniger gelungen ist.

Cassandras Traum

Heute lief Cassandras Traum auf Kabel1, und da ich ihn noch nicht kannte, war ich neugierig. Mit den vier Werbepausen war es allerdings eine ganz schöne Geduldsprobe, zumal Allens Filme ohnehin meist im gemütlichen Altmänner-Rhythmus erzählt sind. Es geht um die Geschichte zweier Brüder (Colin Farrell und Ewan McGregor), die beide dringend Geld brauchen. Zum Glück haben sie einen reichen Onkel (Tom Wilkinson), der es ihnen geben könnte. Dummerweise verlangt er dafür einen Mord…

Ein bisschen Schuld und Sühne, ein paar Anspielungen auf die griechische Tragödie und ein gelungener, aber viel zu abrupter Schluss – fertig ist Cassandras Traum. Es dauert lange, bis die Geschichte überhaupt an Fahrt gewinnt, und da es Allen vor allem um die moralischen Implikationen der Tat, um die Gewissensnöte und Schuldgefühle des von Colin Farrell wunderbar gespielten Terry geht, ist das Mordkomplott selbst mit heißer Nadel gestrickt. Die Motive spielen kaum noch eine Rolle, sobald sich die beiden Helden zur Tat entschlossen haben, und auch die genreüblichen Verwicklungen und Komplikationen lässt Allen einfach unter den Tisch fallen. So verspielt er die Chance, einen spannenden Film zu erzählen und dennoch seinem Thema treu zu bleiben. Das ist schade und höchst ärgerlich, denn die Idee an sich ist gut. Das Material, das er sich jedoch dazu ausgedacht hat, reicht höchstens für einen Kurzfilm.

Note: 4

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Über Pi Jay

Ein Mann des geschriebenen Wortes, der mit fünfzehn Jahren unbedingt eines werden wollte: Romanautor. Statt dessen arbeitete er einige Zeit bei einer Tageszeitung, bekam eine wöchentliche Serie - und suchte sich nach zwei Jahren einen neuen Job. Nach Umwegen in einem Kaltwalzwerk und dem Öffentlichen Dienst bewarb er sich erfolgreich an der Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg. Er drehte selbst einige Kurzfilme und schrieb die Bücher für ein halbes Dutzend weitere. Inzwischen arbeitet er als Drehbuchautor, Lektor und Dozent für Drehbuch und Dramaturgie - und hat bislang fünf Romane veröffentlicht.